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Definition und Abgrenzung

Der digitale Zwilling (engl. Digital Twin) ist eine virtuelle Repräsentation eines Produktes, eines Prozesses oder einer Produktionsanlage, welche mittels einer automatisierten Datensynchronisation Daten sammelt, verarbeitet und per Steuerungsbefehle auf den physischen Gegenpart Einfluss nehmen kann. Der Digital Twin ist ein Kernelement der digitalen Transformation sowie von vielen weiteren Digitalisierungsbestrebungen. Trotz seiner weiten Verbreitung fehlt es an einem einheitlichen Verständnis des Begriffs des Digital Twin. Dies resultiert aus den verschiedenen Spannungsfeldern, die der Digital Twin abdeckt. Eine eindeutige Definition ist daher in den gängigen Nachschlagewerken derzeit noch nicht verfügbar. Dennoch lässt sich aus den Definitionsansätzen eine Abgrenzung der Begrifflichkeit ableiten.

Der Kern der Definitionen beinhaltet drei Dimensionen: das physische Element, das virtuelle Element, sowie den Datenfluss, der beide Elemente verbindet [1-3]. Besonders das virtuelle Element wird spezifischer ausgestaltet. So muss der Digital Twin eine ultra-realistische Abbildung des physischen Elements beinhalten, die sich eignet, Simulationen mit einer hohen Echtheitstreue und synchronisierten Daten durchzuführen [4]. Zudem begleitet der Digital Twin das physische Element über dessen gesamten Lebenszyklus und entwickelt sich dementsprechend weiter [5]. Die ursprünglich drei-dimensionale Definition wurde zuletzt um zwei weitere Dimensionen erweitert. Der Digital Twin besteht demnach weiterhin aus dem physischen und virtuellen Element sowie den Datenverbindungen der Elemente. Hinzugefügt wurden die generierten, erfassten und gespeicherten Datensätze und die Dienstleistungen, die der Digital Twin anbietet [6,7].

Weitere Elemente werden in taxonomischen und typologischen Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit beschrieben. Jones et al. definieren insgesamt 13 Elemente eines Digital Twin. Neben den bereits bekannten fünf Dimensionen fügen sie die physische und virtuelle Umgebung der Elemente, die Elementzustände, die Prozesse der Zustandsmessung und Zustandsveränderung, die Synchronisationsrate sowie die Berücksichtigung von physischen sowie virtuellen Prozessen, die Einfluss auf den Digital Twin nehmen, hinzu [8]. Ausgehend von den verschiedenen Charakteristika eines instanziierten Digital Twin lassen sich zudem fünf Archetypen ableiten [9]. Angelehnt an ein Reifegradmodell existiert zunächst der Basiszwilling, der ausschließlich die grundlegenden Charakteristika, wie z.B. eine Synchronisation, beinhaltet. Darauf bauen die weiteren angereicherten Zwillinge auf, welche u.a. umfassendere Kommunikationsmöglichkeiten oder eine vertiefte Interoperabilität bieten. Der fünfte Archetyp bildet schließlich die umfassendste Entwicklungsstufe und beinhaltet eine umfangreiche Palette an Datenverarbeitungs-, Datentransfer- und Datenspeicherungsoptionen.

Es bleibt jedoch festzustellen, dass die Entwicklung des digitalen Zwillings und damit einhergehend auch die abschließende Definition noch nicht abgeschlossen ist.

Geschichte

Die Geschichte des Digital Twin reicht bis in die 1960er-Jahre zurück, als die NASA begann, mit physischen Zwillingen im Rahmen des Apollo-Programms zu arbeiten [10,11]. Häufig wird konkret die missglückte Apollo-Mission 13 als erste Bewährungsprobe genannt, bei der der physische Zwilling am Boden eine reale Simulationsumgebung zur Verfügung stellte, um Alternativen zu testen und reale Flugbedingungen nachzustellen [10,12]. Auf europäischer Ebene begann zur gleichen Zeit Airbus mit der Entwicklung des ersten Flugzeugmodells, dem Airbus A300. Hierbei setzte Airbus auf sogenannte Iron Birds, die die Flugzeugsysteme physisch simulieren und somit bereits vor dem Erstflug Daten aus der Praxis liefern. Dies ist auch heute noch trotz vielfältiger digitaler Möglichkeiten bei den jüngsten Neuentwicklungen der Fall [13]. Im Jahr 2002 wurde erstmals das grundlegende Konzept des Digital Twin im Rahmen von Seminarvorträgen zum Thema „Product Lifecycle Management (PLM)“ von Michael Grieves vorgestellt [2]. Obwohl das damalige Konzept bereits die Kernelemente des heutigen Konzepts des Digital Twin enthielt, wurde es als „Conceptual Ideal for PLM“ bezeichnet. In den folgenden Jahren förderte vor allem Grieves das Konzept weiter, änderte aber die Bezeichnung noch mehrmals. Der Begriff Digital Twin wurde erstmals 2010 bei einer Zusammenarbeit zwischen Grieves mit Ingenieuren der NASA eingeführt [14,15]. Konzeptuell wird das Konstrukt des Digital Twin erweitert. Verstanden wird der Digital Twin vor allem als virtueller Repräsentant der Luft- und Raumfahrtflotten der NASA sowie der US Air Force [16,14,5]. Grieves selbst bezeichnete schließlich 2014 sein ideales PLM-Konzept als Digital Twin [12]. Verschiedene Literaturanalysen zeigen, dass der Digital Twin seit 2015 in die breite Forschung vorstieß [1,17,18].

Heute ist der Digital Twin ein weit verbreiteter Begriff in einer Vielzahl von unterschiedlichen Domänen und Anwendungskontexten, z.B. in den Ingenieurwissenschaften, der Informatik, der Mathematik, den Sozialwissenschaften, der Medizin und vielen mehr.

Anwendung und Beispiele

Digital Twins sind integraler Bestandteil industrieller Prozesse. Allein von den zehn größten deutschen Unternehmen nach Marktwert entwickeln bzw. nutzen bereits alle Digital Twins: von der Überwachung und Steuerung der Produktions- und Logistiksysteme (vgl. VW Group, Mercedes-Benz, BMW, Deutsche Post, Merck), über das Facility Management sowie die Anlagenwartung (Bayer) bis hin zum Angebot von auf Digital Twins basierenden Dienstleistungen (SAP, Siemens, Allianz). Auch abseits der Top Ten arbeitet nahezu jedes größere Unternehmen an diesem Thema.

Leuchtturmprojekte hierzu sind die Industrial Digital Twin Association IDTA [19], welche auf Basis der Verwaltungsschale Digital Twins konzipiert und anbietet, und das Digital Twin Registry, welches im Rahmen von Catena-X [20] innerhalb der Automotive-Industrie entwickelt wird.

Kritik und Probleme

Durch die nicht abschließende Definition des Digital Twin entsteht ein Wildwuchs an Interpretationen von Digital Twins. Dies zeigt sich besonders an zwei Aspekten: Zum einen verschwimmt in der praktischen Anwendung sehr häufig die klare Unterscheidung zwischen Digital Twin und Simulationsanwendungen. Zum anderen existieren weitere verwandte Konzepte, die dem Digital Twin ähnlich sind.

Obwohl die Simulation eine der wichtigsten Anwendungen des Digital Twin darstellt [9], sind beide Technologien nicht gleichzusetzen. Die Simulationsanwendung stellt lediglich eine Untermenge des Dienstleistungsangebots des Digital Twin dar [21]. Die enge Verknüpfung der beiden Begriffe ist allerdings nicht verwunderlich angesichts der simulations-lastigen Definitionen des Digital Twin, u.a. als nächster Evolutionsschritt der Simulation [11]. Studien zeigen, dass viele Projekte, die ihr virtuelles Artefakt Digital Twin nennen, keinen Digital Twin per Definition entwickelt, sondern klassische Simulationen durchgeführt haben [22]. Andererseits entwickelt sich die Simulationslandschaft konvergent zum Digital Twin weiter, sodass eine Simulationsstudie der letzten Jahre sehr viele Charakteristika und Fähigkeiten eines Digital Twin bietet, was nicht zuletzt der schnellen Weiterentwicklung der Simulationssoftware zugeschrieben werden kann [23].

Eine weitere Herausforderung ist die Abgrenzung des Digital Twin gegenüber verwandten Konzepten wie dem digitalen Schatten, dem digitalen Modell oder der digitalen Lebensakte. Diverse Abgrenzungsansätze existieren hierzu, welche im Besonderen die unterschiedlichen Arten des Datentransfers fokussieren [24]. Seltener wird im Zusammenhang mit dem Digital Twin vom sogenannten virtuellen Zwilling gesprochen. Größtenteils wird dieser Begriff in der Literatur für den virtuellen Part des Digital Twin bzw. als Synonym für das Gesamtkonzept des Digital Twin an sich genutzt (vgl. [25]). Es existieren jedoch ebenfalls Bestrebungen, den Digital Twin innerhalb eines Metaverses als virtuelle Lebensumgebung zu integrieren und somit dem User virtuelle Erfahrungen zu ermöglichen [26]. Eine Vorreiterrolle übernimmt hier beispielsweise Dassault Systems mit ihrem virtuellen Zwilling innerhalb der 3DExperience.

Forschung

Die Forschung zu Digital Twins konzentriert sich zurzeit auf den Aspekt der stärkeren Abgrenzung gegenüber verwandten Konzepten. Des Weiteren werden die aus der Produktionstechnik kommenden Erkenntnisse adaptiert und im Besonderen in den Bereichen Smart City, Logistik und Healthcare weiterverfolgt. Es existieren diverse Forschungsprojekte an Universitäten, Hochschulen, Fraunhofer Instituten sowie in der Industrie, die spezifische branchenrelevante Lösungen entwickeln:

Weitere Forschungsaktivitäten betreffen den sicheren Umgang mit sogenannten geteilten Digital Twins, die analog zu Datentreuhändern besonderen Anforderungen unterliegen.

Quellen

[1] Enders, M.R., Hoßbach, N., 2019. Dimensions of Digital Twin Applications – A Literature Review, in: Proceedings of the 25th Americas Conference on Information Systems, Cancun: Mexico, pp. 1–10.

[2] Grieves, M., 2002. Completing the Cycle: Using PLM Information in the Sales and Service Functions. SME Management Forum, Troy, USA.

[3] Grieves, M., 2014. Digital Twin: Manufacturing Excellence Through Virtual Factory Replication.

[4] Glaessgen, E., Stargel, D., 2012. The Digital Twin Paradigm for Future NASA and U.S. Air Force Vehicles, in: Structures, Structural Dynamics, and Materials and Co-Located Conferences. 53rd AIAA/ASME/ASCE/AHS/ASC Structures, Structural Dynamics, and Materials Conference. American Institute of Aeronautics and Astronautics, Reston, USA.

[5] Tuegel, E., 2012. The Airframe Digital Twin: Some Challenges to Realization, in: Structures, Structural Dynamics, and Materials and Co-Located Conferences. 53rd AIAA/ASME/ASCE/AHS/ASC Structures, Structural Dynamics, and Materials Conference. American Institute of Aeronautics and Astronautics, Reston, USA.

[6] Tao, F., Zhang, M., Liu, Y., Nee, A., 2018. Digital Twin Driven Prognostics and Health Management for Complex Equipment. CIRP Annals 67 (1), 169–172.

[7] Tao, F., Zhang, M., Nee, A.Y.C., 2019. Digital Twin Driven Smart Manufacturing. Academic Press, London, United Kingdom, 269.

[8] Jones, D., Snider, C., Nassehi, A., Yon, J., Hicks, B., 2020. Characterising the Digital Twin: A Systematic Literature Review. CIRP Journal of Manufacturing Science and Technology 29, 36–52.

[9] van der Valk, H., Haße, H., Möller, F., Otto, B., 2022. Archetypes of Digital Twins. Business & Information Systems Engineering 64, 375–391.

[10] Boschert, S., Rosen, R., 2016. Digital Twin – The Simulation Aspect, in: Hehenberger, P., Bradley, D. (Eds.), Mechatronic Futures. Springer International Publishing, Cham, Switzerland, pp. 59–74.

[11] Rosen, R., Wichert, G. von, Lo, G., Bettenhausen, K.D., 2015. About The Importance of Autonomy and Digital Twins for the Future of Manufacturing. IFAC-PapersOnLine 48 (3), 567–572.

[12] Grieves, M.W., 2023. Digital Twins: Past, Present, and Future, in: Crespi, N., Drobot, A.T., Minerva, R. (Eds.), The Digital Twin. Springer International Publishing, Cham, pp. 97–121.

[13] Airbus, 2017. Taking Flight with the Airbus “Iron Bird”. Airbus. [13.08.2023].

[14] Piascik, B., Vickers, J., Lowry, D., Scotti, S., Stewart, J., Calomino, A., 2010. DRAFT Materials, Structures, Mechanical Systems, and Manufacturing Roadmap: Technology Area 12.

[15] Shafto, M., Conroy, M., Doyle, R., Glaessgen, E., Kemp, C., LeMoigne, J., Wang, L., 2010. DRAFT Modeling, Simulation, Information, Technology & Processing Roadmap: Technology Area 11.

[16] Gockel, B., Tudor, A., Brandyberry, M., Penmetsa, R., Tuegel, E., 2012. Challenges with Structural Life Forecasting Using Realistic Mission Profiles, in: Structures, Structural Dynamics, and Materials and Co-Located Conferences. 53rd AIAA/ASME/ASCE/AHS/ASC Structures, Structural Dynamics, and Materials Conference. American Institute of Aeronautics and Astronautics, Reston, USA.

[17] Tao, F., Zhang, H., Liu, A., Nee, A.Y.C., 2019. Digital Twin in Industry: State-of-the-Art. IEEE Trans Ind Inf 15 (4), 2405–2415.

[18] van der Valk, H., Haße, H., Möller, F., Arbter, M., Henning, J.-L., Otto, B., 2020. A Taxonomy of Digital Twins, in: Proceedings of the 26th Americas Conference on Information Systems. AIS, Salt Lake City, USA, pp. 1–10.

[19] IDTA, 2023. Der Standard für den Digitalen Zwilling. Industrial Digital Twin Association. [13.08.2023]

[20] Catena-X, 2023. Semantic Layer/Digital Twins. [13.08.2023]

[21] Grieves, M., 2022. Don’t ‘Twin’ Digital Twins and Simulations. DesignLines.

[22] van der Valk, H., Hunker, J., Rabe, M., Otto, B., 2020. Digital Twins in Simulative Applications: A Taxonomy, in: Proceedings of the 2020 Winter Simulation Conference. 2020 Winter Simulation Conference (WSC), Orlando, FL, USA. 12/14/2020 – 12/18/2020. IEEE, Piscataway, NJ, pp. 2695–2706.

[23] van der Valk, H., Winkelmann, S., Ramge, F., Hunker, J., Langenbach, K., Rabe, M. Characteristics of Simulation: A Meta-Review of Modern Simulation Applications, in: Proceedings of the 2022 Winter Simulation Conference (WSC), pp. 2558–2569.

[24] Kritzinger, W., Karner, M., Traar, G., Henjes, J., Sihn, W., 2018. Digital Twin in Manufacturing: A Categorical Literature Review and Classification. IFAC-PapersOnLine 51 (11), 1016–1022.

[25] Kritzler, M., Funk, M., Michahelles, F., Rohde, W., 2017. The Virtual Twin: Controlling Smart Factories Using a Spatially-Correct Augmented Reality Representation, in: Proceedings of the Seventh International Conference on the Internet of Things – IoT ’17. ACM Press, New York, USA, pp. 1–2.

[26] Dassault Systems, 2022. Virtual Twins, Digital Twins and the Metaverse. [13.08.2023]