Um nachhaltige Finanzprodukte anzubieten, benötigen Finanzinstitutionen Informationen über die Umwelt-, Sozial- und Governance-Aspekte (ESG) der Unternehmen und Produkte, in die investiert wird. Frühe Formen des nachhaltigen Investierens in den 1970er- und 1980er-Jahren stützten sich auf detaillierte Unternehmensprofile, die von Analysten erstellt wurden. Heute hingegen bieten spezialisierte Finanzdienstleister umfangreiche Datensätze mit zahlreichen Nachhaltigkeitskennzahlen und Bewertungen für Tausende von Unternehmen an. Und während sich die Analysten früherer Zeiten oft schwer taten, an Daten zu gelangen, publizieren Unternehmen heutzutage digitale Nachhaltigkeitsberichte, die bisweilen mehrere Hundert Seiten umfassen.
Dementsprechend spielt die Erzeugung und Verarbeitung großer Datenmengen sowie die Automatisierung von Datenbearbeitung und Analyse eine immer größere Rolle im Bezug auf ESG-Kennzahlen und Bewertungen. Um „ESG-Endprodukte“ wie Ratings zu erstellen, welche die verschiedenen Aspekte der Nachhaltigkeit eines Unternehmens zusammenbringen, müssen Daten aus verschiedenen unstrukturierten Informationsquellen zusammengeführt und verarbeitet werden. Diese stufenweise „Produktion“ und Verarbeitung von Informationen kann man mit dem Begriff einer ESG-Daten-Wertschöpfungskette beschreiben. In dieser Wertschöpfungskette gibt es drei Datentypen, die sich nach dem Grad der Verarbeitung unterscheiden. Anfangs stehen Rohdaten, die aus Quellen wie öffentlichen Statistiken, Zeitungsartikeln oder Berichten von zivilgesellschaftlichen Organisationen stammen. Durch technische Fortschritte in der automatischen Verarbeitung großer Datenmengen werden darüber hinaus zunehmend auch Social-Media-Daten und von Satelliten produzierte Fernerkunddungsdaten als Rohdaten verwendet.
Die wichtigste Quelle für Rohdaten sind jedoch die Unternehmen selbst. Unternehmen sind durch Gesetze wie die Corporate Sustainability Disclosure Reporting Directive (CSRD) der EU dazu verpflichtet, über bestimmte Nachhaltigkeitsthemen und Kennzahlen Auskunft zu geben. Dies geschieht in jährlichen Nachhaltigkeitsberichten sowie in Broschüren und Factsheets, die auf den Websites der Unternehmen einsehbar sind. Eine Gemeinsamkeit der Rohdaten liegt darin, dass sie zumeist unstrukturiert vorliegen. So sind Unternehmensberichte oft Hunderte Seiten lang und unterscheiden sich oft in der Präsentation und Detailtiefe von Informationen. Öffentliche Statistiken und Daten von zivilgesellschaftlichen Organisationen liegen hingegen oft nur für Teilaspekte der Nachhaltigkeit von Unternehmen und innerhalb von Landesgrenzen vor.
Im nächsten Schritt der Wertschöpfungskette werden die unstrukturierten Rohdaten von ESG-Datenanbietern zu strukturierten Datensätzen verarbeitet. Hierzu werden einerseits Daten aus verschiedenen Quellen (z. B. Berichte verschiedener Unternehmen) in einem strukturierten Datensatz zusammengeführt. Während diese Aufgabe früher zumeist händisch von Analysten durchgeführt wurde, werden zunehmend auch KI-gestützte Systeme zum Eintragen der Daten verwendet. Neben dem Eintragen führen ESG-Datenanbieter verschiedene Prozesse zur Datenbereinigung und Qualitätssicherung durch. So werden beispielsweise die Nachhaltigkeitsdaten von Tochterfirmen und einzelne Produktionsstätten den Unternehmen zugeordnet. Außerdem werden fehlende und auch unplausible Daten durch modellierte Werte ersetzt. Darüber sortieren und klassifizieren die Datenanbieter die Unternehmen (z. B. nach Sektor oder Größe), um die Vergleichbarkeit zu erhöhen. So schaffen ESG-Datenanbieter strukturierte Datensätze, die Hunderte bis Tausende Nachhaltigkeitsindikatoren Tausenden oder sogar Zehntausenden Unternehmen zuordnen.
Im Bild der ESG-Daten-Wertschöpfungskette nehmen die strukturierten Datensätze die Rolle eines Zwischengutes ein. Datenanbieter verkaufen diese Produkte teilweise an nachgelagerte ESG-Analysefirmen oder an Endnutzer wie Banken, Versicherungen und Asset Manager (z. B. BlackRock oder DWS), die über statistische und Modellierungsexpertise zur Datenweiterverarbeitung verfügen. Viele Nutzer:innen kaufen jedoch weiterverarbeitete Endprodukte, anhand derer sich die Nachhaltigkeit von Investitionen direkt einschätzen und vergleichen lässt. Zu den bekanntesten Endprodukten gehören ESG-Ratings, die alle Nachhaltigkeitsaspekte eines Unternehmens auf einer gemeinsamen Skala (z. B. von 0 bis 100) zusammenfassen. Um ein ESG-Rating zu bekommen, wählen die ESG-Datenbieter bestimmte Variablen aus dem strukturierten Datensatz aus und rechnen sie zusammen. Je nach Unternehmenstyp und Sektor werden dabei andere Variablen ausgewählt und gewichtet. Bei Unternehmen aus der Textilbranche bekommen beispielsweise im Allgemeinen Arbeitsbedingungen in der Lieferkette eine höhere Aufmerksamkeit, während Treibhausgase für Energiekonzerne eine größere Rolle spielen. Die Auswahl der Variablen basiert dabei zumeist auf einer Einschätzung, welche Nachhaltigkeitsthemen Risiken für das Unternehmen (z. B. aufgrund von Regulierung) darstellen könnten. Neben ESG-Ratings entwickeln Datenanbieter auch andere Produkte, wie beispielsweise Metriken, die messen, für wie viele Emissionen ein Aktienportfolio verantwortlich ist oder wie hoch finanzielle Verluste durch Nachhaltigkeitsrisiken sein könnten. Trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtung basieren die verschiedenen Endprodukte im Großteil auf dem Zwischenprodukt der strukturierten Datensätze. Außerdem sind die Methoden zur Schaffung neuer Indikatoren und Analyseprodukte proprietäres Eigentum der ESG-Datenanbieter. Letzteres erschwert die Nachverfolgung des Wegs von Daten innerhalb der Wertschöpfungskette erheblich.
Vergleichbarkeit mit analogen Phänomenen
Die ESG-Daten-Wertschöpfungskette hat Ähnlichkeiten mit physischen Wertschöpfungsketten von Konsumgütern, wie der für Kaffee. So wird die Kaffeebohne zuerst von Landwirten angebaut und geerntet. Über verschiedene Zwischenhändler und Transportunternehmen kommen die getrockneten Bohnen schließlich zu Röstereien, die das Endprodukt, also den im Handel erwerbbaren Kaffee, herstellen. Im Gegensatz zum Kaffee werden ESG-Daten natürlich nicht physisch geerntet oder verschifft. Trotzdem haben beide Wertschöpfungsketten ähnliche Charakteristika. So sind die Rohstoffe bzw. die Rohdaten in beiden Fällen günstig oder frei verfügbar, während das Endprodukt teurer verkauft wird. Die Landwirte bekommen beispielsweise nur ein Achtel dessen, was die Rösterei an einer Tasse Kaffee verdient. Gleichsam verkaufen ESG-Datenanbieter Informationen, die in unstrukturierter Form oft frei verfügbar vorliegen, für mehrere Zehntausend Euro im Jahr. Die Preise der Datenanbieter variieren je nach Umfang der abonnierten Produkte von ein mehreren tausend Euro pro Jahr und Anbieter bis hin zu Millionenbeträgen. Ein prominenter Anbieter (Sustainalytics-Morningstar) stellt seine aggregierten ESG Risikobewertungen auch frei zu Verfügung.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass das prozessierte Endprodukt oft keine Rückschlüsse mehr auf die Attribute der ursprünglichen Rohstoffe zulässt oder dies zumindest erschwert. Der geröstete und gemahlene Kaffee besteht zumeist aus Bohnen von verschiedenen Anbaugebieten und Zwischenhändlern. Eine Rückverfolgung zu den genauen Standorten der Pflanzen, aus denen die Bohnen kamen, ist dabei fast ausgeschlossen. Bei ESG-Daten verhält es sich ähnlich, auch wenn es zu keiner physischen Transformation des Produkts kommt. So liegen zwischen dem Schornstein, aus dem Kohlenstoffdioxid in die Erdatmosphäre geblasen wird, und den „finanzierten Emissionen“ eines Aktienfonds so viele Datentransformationen, dass ein Reverse-Engineering dem Unterfangen der Rückverfolgung einer Kaffeebohne durchaus ähnelt.
Gesellschaftliche Relevanz
Die ESG-Daten-Wertschöpfungskette erlaubt es, aus der Masse an unüberschaubaren und unstrukturierten Informationen Signale zur Nachhaltigkeit von Unternehmen und Finanzinstrumenten zu extrahieren. Durch die Generierung, Auswahl und Transformation von Daten beeinflussen Akteure aus der Wertschöpfungskette wie berichtspflichtige Unternehmen oder ESG-Datenanbieter, wie Nachhaltigkeit gemessen und wahrgenommen wird. Diese Definitionen haben wiederum Einfluss auf die Geldflüsse von nachhaltigen Fonds, die oft in Unternehmen mit hohen ESG-Ratings investieren. Da solche Ratings allerdings auf einer Vielzahl von methodischen Entscheidungen aufbauen und verschiedenste Aspekte der Nachhaltigkeit integrieren und gegeneinander abwägen, kann es bei Nutzenden oft zu Missverständnissen kommen. Ein Beispiel dafür sind die jüngsten Kontroversen um nachhaltige Fonds. Wenn diese trotz ihrer Nachhaltigkeitsorientierung Unternehmen beinhalten, die mit Kohleverstromung Geld verdienen, wird dies als Zeichen von Greenwashing interpretiert. Um die Transparenz und das Vertrauen in Ratings und andere ESG-Endprodukte zu erhöhen, erarbeiten Aufsichtsbehörden aus der EU, Indien, Singapur und dem Vereinigten Königreich gerade Vorschläge zur Regulierung von ESG-Datenanbietern. Jenseits des Fokus auf Transparenz stellen sich im Angesicht der zunehmenden Digitalisierung und Relevanz der Wertschöpfungskette jedoch auch noch weitere gesellschaftliche Fragen. Da die meisten unstrukturierten Rohdaten öffentlich zugänglich sind, während strukturierte Datensätze eingekauft werden, stellt sich beispielsweise die Frage, ob verschiedene ESG-Datentypen als öffentliche oder private Güter gesehen werden sollten. Die Erschließung und Analyse alternativer Datenquellen wie Social Media oder Satellitendaten öffnen zudem die Möglichkeiten, existierende Daten von Unternehmen oder ESG-Datenanbietern zu vernetzen und zu validieren. Außerdem stellen sich durch die zunehmende Anwendung von KI-Systemen auch Fragen zur Erklärbarkeit von Datenprodukten.
Quellen
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- Climate arc: Five solutions to transform tehe climate data ecosystem. https://climatearc.org/insights/5-solutions-to-transform-the-climate-data-ecosystem/ [30.06.2024].
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- Institut Louis Bachelier. ESG Data Cartography. https://www.institutlouisbachelier.org/en/esg-data-cartography/ [30.06.2024].