PERSPEKTIVEN dann die Möglichkeit, genau den in einem solchen Abwä- gungsprozess für besser befundenen Gründen auch folgen zu können. Wenn ich als Mensch frei bin, sind es also jeweils meine durch Deliberation ermittelten Gründe, die mich leiten, so oder so zu urteilen und zu handeln. Was bedeutet dieses Gründe-basierte Vernunft- und Freiheitsverständnis nun für den Verantwortungsbegriff? Ent- gegen dem sogenannten Semi-Kompatibilismus setzt Ver- antwortung sowohl auf Handlungs- wie auf Willens- bezie- hungsweise Entscheidungsebene die Freiheit voraus, die fragliche Handlung und die ihr zugrunde liegende Entschei- dung auch unterlassen zu können. Aber sind denn unsere Entscheidungen und Handlungen wirklich frei? Handlungen unterscheiden sich von bloßem Verhalten in mehrerlei Hinsicht. So weisen sie neben einer rein raum- zeitlichen Verhaltenskomponente zum einen das Merkmal der Intentionalität auf (verliert bei einer Busfahrt die Insassin I infolge einer Vollbremsung derart das Gleichgewicht, dass sie auf die Person P fällt, würde man nicht von einer Hand- lung, sondern von einem unabsichtlichen, nicht von ihren In- tentionen gesteuerten Verhalten sprechen). Zum anderen sind Handlungen Gründe-geleitet, das heißt, die handelnde Person hat immer einen Grund beziehungsweise Gründe für ihre Handlung. Handlungen werden in dieser Hinsicht konsti- tuiert durch Gründe; nicht unbedingt durch gute Gründe, aber sie erfolgen eben nie völlig grundlos. Von welchen Gründen wir uns leiten lassen, ist dabei das Ergebnis eines (manchmal auch sehr kurzen) Deliberationsprozesses, bei dem die unter- schiedlichen Gründe gegeneinander abgewogen werden und der, wenn er abgeschlossen ist, in eine Entscheidung mündet, die dann durch eine Handlung realisiert wird. Die je- weilige Entscheidung ist dabei in dem Sinne notwendig frei, dass schon rein begrifflich ausgeschlossen ist, dass sie vor dem Abschluss des Abwägungsprozesses bereits feststeht, denn es gehört schlicht zum Wesen von Entscheidungen, dass es, bevor die Entscheidung getroffen wurde, tatsächlich etwas zu entscheiden gab. Eine Entscheidung, deren Inhalt schon feststeht, bevor sie getroffen wurde, ist schlicht keine Entscheidung! Es ist nun genau diese Fähigkeit, Gründe abzuwägen, die uns Menschen nicht nur zu rationalen Wesen, sondern auch verantwortlich macht. Denn nur Handlungen, nicht aber bloßes Verhalten können Gegenstand eines Vorwurfs sein. Während wir bei einem durch bloßes Verhalten verursachten Schaden keine Vorwürfe erheben und uns mit einer rein kau- salen Erklärung zufriedengeben (im obigen Beispiel: „Auf- grund der durch Vollbremsung auf sie wirkenden Kräfte ist I auf P gefallen, was zu einer Verletzung von P geführt hat“), erwarten wir bei einer Handlung, die andere schädigt oder beeinträchtigt, eine Begründung und, sofern dies möglich ist, eine Rechtfertigung, das heißt Gründe, die diese Hand- lung rechtfertigen. Rechtfertigen muss und kann man sich aber nur für etwas, für das man auch verantwortlich gemacht werden kann. Es ist also der Umstand, dass Handlungen Gründe-ge- leitet sind, der uns Menschen für sie verantwortlich sein lässt. Der begriffliche Zusammenhang zwischen Verantwortung, Freiheit und Vernunft lässt sich vor diesem Hintergrund fol- gendermaßen wiedergeben: Weil beziehungsweise sofern wir vernünftig sind, das heißt über die Fähigkeit zu Delibera- tion verfügen, sind wir, indem wir diese Fähigkeit ausüben und unser Handeln und Urteilen danach ausrichten, frei, und nur weil und nur in dem Maße, in dem wir frei sind, können wir verantwortlich sein. Die hier vertretene Gründe-basierte Konzeption von Verantwortung erfordert die Fähigkeit des Akteurs, sich selbst übergeordnete Ziele zu setzen und seine Handlungen im Hinblick auf diese Ziele auszurichten. Zu so einer Art von Autonomie sind auch komplexe KI-Systeme auf absehbare Zeit nicht in der Lage, denn ihre Autonomie zeigt sich allen- falls darin, dass sie die geeigneten Mittel wählen können, um die ihnen extern vorgegebenen Ziele zu erreichen. So kann zwar ein Krankenpfleger, nicht jedoch ein Pflegeroboter von sich aus entscheiden, einen neuen Beruf zu erlernen. Viel- leicht wäre es möglich, ihn zum Beispiel zu einem Gartenro- boter umzuprogrammieren oder ihn diese neue Tätigkeit so- gar unbeaufsichtigt erlernen zu lassen; der Pflegeroboter jedoch kann sich dieses neue übergeordnete Ziel „Gartenro- boter zu sein“ nicht selbst geben. Eine rechtliche Verantwortung von Maschinen – und damit auch eine Einführung der rechtlichen Kategorie einer E-Person – kommt damit aus philosophischer Sicht also nicht in Betracht. Grundlagen der zivil- und strafrechtlichen Haftung Damit stellt sich die Frage, wie die zivil- und strafrechtliche Haftung von Personen ausgestaltet ist, ob es möglicherwei- se tatsächlich Haftungslücken gibt und wie diesen gegebe- nenfalls begegnet werden kann. Bei der zivilrechtlichen Haf- tung geht es um die Frage, ob der durch die Maschine Geschädigte den Schaden selbst zu tragen hat oder Ersatz 49