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Digitale Ungleichheit

Definition und Abgrenzung

In der These der digitalen Ungleichheit wird behauptet, dass statushöhere Personen in einem größeren Ausmaß von der Verfügbarkeit digitaler Technologien profitieren. Im Allgemeinen nutzen Statushöhere digitale Technologien in einem größeren zeitlichen Ausmaß, verfügen über eine höhere Nutzungskompetenz und greifen eher auf politische, wissenschaftliche und gesundheitsbezogene Informationen – das heißt auf jene Inhalte – zu, von denen angenommen wird, dass sie sich vorteilhaft auswirken (Zillien/Hargittai 2009). Deshalb wird angenommen, dass die fortschreitende Digitalisierung eher mit wachsenden als schrumpfenden sozialen Ungleichheiten einhergeht.

Geschichte

Bereits im Juli 1995 publizierte die amerikanische Telekommunikationsbehörde (NTIA) einen Bericht mit dem Titel „Falling through the Net: A Survey of the ‚Have Nots‘ in Rural and Urban America“, der die ungleiche Verbreitung von Telefon-, Computer- und Modemverteilung konstatierte. Unter anderem wurde aufgezeigt, dass formal höher Gebildete eher über einen Zugang zum neuen Medium verfügten, was als Hinweis auf eine wachsende Ungleichheit verstanden wurde (NTIA 1995). Der im Jahr 1998 veröffentlichte Folgebericht „Falling through the Net II“ (NTIA 1998) popularisierte dann für diese internetgetriebenen Ungleichheiten den Begriff des Digital Divide, der etwas später als digitale Spaltung oder digitale Kluft ins Deutsche übertragen wurde. Zu den ersten für Deutschland repräsentativen Befragungen zum Thema gehören die ab 1997 durchgeführte ARD-ZDF-Onlinestudie sowie die ab 2001 publizierte Untersuchung der Initiative D21, die jeweils bis heute erscheinen. Um die Jahrtausendwende etablierte sich so in den Sozialwissenschaften das Feld der Digital-Divide-Forschung.

Viele der frühen Arbeiten zur digitalen Spaltung rekurrieren dabei auf die These der wachsenden Wissenskluft, welche besagt, dass mit der Verbreitung medialer Informationen gesellschaftliche Wissensunterschiede eher vergrößert als abgebaut werden (Tichenor et al. 1970: 159f.). Wird diese ursprünglich auf Printmedien bezogene Wissensklufthypothese auf das Internet übertragen, sind noch umfassendere Zuwächse sozialer Ungleichheiten anzunehmen, da die Nutzung von Digitaltechnologien im Großen und Ganzen kognitiv, technisch und ökonomisch voraussetzungsreicher und zudem weitaus vielfältiger ist als dies für Zeitungen, das Radio oder das Fernsehen gilt (Bonfadelli 2002: 72f., DiMaggio et al. 2004).

Anwendung und Beispiele

Die Forschung zur digitalen Ungleichheit lässt sich chronologisch in drei sich überlappende Phasen unterteilen: die Phasen der Zugangs-, Nutzungs- und Wirkungsforschung (Marr/Zillien 2018). Am Anfang der empirischen Digital-Divide-Forschung stehen in erster Linie deskriptive Analysen der Internetdiffusion, welche sich unter dem Label der Zugangsforschung subsumieren lassen.

Die entscheidende Frage der Zugangsforschung ist, inwiefern Diffusionsraten über verschiedene soziale Gruppen hinweg variieren. Der prozentuale Anteil von Nutzenden und Nichtnutzenden, Personen mit und ohne Internetzugang, On- und Offliner:innen wird im Querschnitt oder im Zeitverlauf unter Fokussierung bestimmter Individualmerkmale verglichen, wobei sich im Großen und Ganzen immer das gleiche Muster zeigt: Höhergebildete, Jüngere, Einkommensstärkere, Männer, Stadtbewohner:innen und Berufstätige verfügen eher über einen Anschluss zum Internet. Das der Zugangsforschung implizite binäre Konzept der digitalen Spaltung wurde jedoch vielfach kritisiert. Dieses sei – so der Vorwurf – undifferenziert und verkürzt, da hinter der Unterscheidung von Nutzenden auf der einen und Nichtnutzenden auf der anderen Seite die Annahme stehe, dass entweder alle Nutzenden das Internet auf die gleiche Art und Weise verwendeten oder dass Nutzungsunterschiede irrelevant sind. Die dichotome Unterscheidung von On- und Offliner:innen berücksichtigt demnach nicht, dass es auch zwischen den Nutzenden bedeutende Differenzen geben kann.

Im Unterschied zur Zugangsforschung unternimmt die Nutzungsforschung deshalb den Versuch, Ungleichheiten der Internetverwendung differenzierter zu erfassen und von der digitalen Spaltung als einem multidimensionalen Phänomen auszugehen, das zudem mit dem Begriff der digitalen Ungleichheit adäquater umschrieben ist. Die Nutzungsforschung fokussiert dabei Unterschiede hinsichtlich der genutzten Technik, der Nutzungskompetenzen oder der genutzten Internetinhalte. Zusammenfassend gilt grundsätzlich, dass die Qualität der internettechnischen Ausstattung, das Ausmaß der digitalen Kompetenzen und die Informationsorientierung der Internetnutzung positiv mit dem gesellschaftlich-wirtschaftlichen Status einer Onlinerin/eines Onliners korrelieren. In diesem Zusammenhang ist jedoch nicht unumstritten, welche Internet­inhalte die soziale Stellung einer Person überhaupt potenziell verfestigen oder gar verbessern. Das heißt, es ist durchaus diskutabel, welche Formen der Internetnutzung eine ressourcensteigernde Wirkung haben. Zudem wird im Rahmen der Nutzungsforschung üblicherweise nicht systematisch geprüft, welche kurz- und langfristigen Folgen aus den variierenden Formen der Internetnutzung resultieren.

Die Wirkungsforschung zur digitalen Spaltung folgt deshalb der Idee, dass nicht die Zugangs- und Nutzungsunterschiede des Internets an sich, sondern die daraus resultierenden Auswirkungen im Mittelpunkt der Analyse stehen sollten. Dahinter steht die Annahme, dass die Digital-Divide-Forschung die Ebene der reinen Deskription verlassen und zu einer Analyse der potenziellen Effekte unterschiedlicher Internetnutzungspraktiken vordringen muss, um ihre sozialwissenschaftliche und auch gesellschaftliche Relevanz unter Beweis zu stellen. Folglich setzt die Wirkungsforschung bei der Verteilung konkreter Ressourcen – wie z. B. Informationen, Sozialkapital oder Partizipationsmöglichkeiten – an und fragt anschließend nach den Folgen der Zugangs- und Nutzungsklüfte für die Verteilung dieser Ressourcen.

Kritik und Probleme​​

Obwohl weite Teile der Bevölkerung heute über Digitalkompetenzen und grundlegende Fertigkeiten im Umgang mit digitalen Technologien verfügen, bleibt das Problem der digitalen Ungleichheit ungelöst. Digitale Ungleichheiten lassen sich durch die Verbesserung von digitaler Ausstattung und Nutzungskompetenzen zwar möglicherweise abmildern, aber keinesfalls beseitigen. Mit jeder technologischen Weiterentwicklung werden zudem vermeintlich überwundene Barrieren erneut durchlaufen. Das heißt, die digitale Ungleichheit wird so schnell nicht von der wissenschaftlichen oder politischen Agenda verschwinden. Ganz im Gegenteil: Mit der fortschreitenden Digitalisierung werden soziale Ungleichheiten nicht mehr nur befeuert, sondern deren Herstellung wird vielmehr verfestigt und gleichsam automatisiert.

Forschung

Aktuelle Arbeiten unterscheiden mindestens fünf Dimensionen der digitalen Ungleichheit (van Dijk 2020; Helsper 2021): (1) In ökonomischer Hinsicht werden internetgenerierte Vorteile im Bereich der Erwerbsarbeit und des Konsumverhaltens konstatiert. (2) In sozialer Hinsicht wird angenommen, dass der digitale Auf- und Ausbau von Netzwerken zur Vermehrung des Sozialkapitals beiträgt. (3) In politischer Hinsicht wird von Vorteilen der digitalen Information und Teilhabe ausgegangen. (4) In kultureller Hinsicht werden Vorteile bezüglich der digitalen Rezeption oder Erstellung von Kulturprodukten angenommen. (5) Und in individueller Perspektive werden vorteilhafte Aspekte bezüglich der Persönlichkeitsentwicklung oder Gesundheitsinformation, die letztlich das persönliche Wohlergehen steigern, konstatiert. Dabei sind beispielsweise jene Gruppierungen, die das Internet allgemein und im speziellen Fall der Gesundheitsinformation weniger nutzen – Ältere, niedriger Gebildete, Einkommensschwache – gleichzeitig größeren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, was eine französische Studie als Double Divide beschreibt (Renahy et al. 2008: 9).

Dies entspricht dem Deutungsmuster des „Innovativeness/Needs Paradox“ (Rogers 2003: 295ff.): Jene Gesellschaftsmitglieder, die die Vorzüge einer Innovation am meisten benötigen, gehören demnach üblicherweise zu den Letzten, die diese übernehmen. Und umgekehrt gilt, dass jene, die eine Innovation als Erstes in ihren Alltag integrieren, am wenigsten auf diese angewiesen sind: „This paradoxical relationship between innovativeness and the need for benefits of an innovation tends to result in a wider socioeconomic gap between the higher and lower socioeconomic individuals in a social system“ (Rogers 2003: 295). Infolge der Verbreitung vieler technologischer Innovationen tritt demnach eine Verstärkung sozialer Ungleichheiten auf, was mit der Grundannahme der These zur digitalen Ungleichheit korrespondiert.

Vor diesem Hintergrund befasst sich ein relativ neuer Bereich der digitalen Ungleichheitsforschung mit der Verstärkung sozialer Ungleichheiten durch den Einsatz von Algorithmen. Der Einsatz von Algorithmen führt demnach mitnichten zum Abbau von Vorurteilen und Diskriminierungen. Vielmehr stattet die algorithmische Berechnung vermeintlich neutrale Entscheidungen mit einer Objektivitätsgeste aus, führt aber zugleich zu diskriminierenden und ungleichheitsverstärkenden Effekten (Eubanks 2018). Während Statushöhere durch den Einsatz von Algorithmen ihre gesellschaftliche Position verbessern, findet aufseiten der Nichtprivilegierten eine absolute Schlechterstellung statt: Sie werden in steigendem Maße mit Fehlinformationen konfrontiert, aufgrund ihres Einkommens oder ihrer Hautfarbe auch online diskriminiert oder erhalten allein aufgrund ihres Geschlechts keine Kredite (O’Neil 2017). Die bestehenden Ungleichheiten werden demnach technologisch verhärtet und teils sogar forciert.

Weiterführende Links und Literatur​​​​

Quellen

Bonfadelli, H. (2002). The Internet and Knowledge Gaps. In: European Journal of Communication 17, 65–84.

DiMaggio, P./Hargittai, E./Celeste, C./Shafer, S. (2004). Digital inequality: From unequal access to differentiated use. In Neckerman (Hrsg.). Social Inequality (S. 355–400). Russell Sage Foundation.

Eubanks, V. (2018). Automating inequality: How high-tech tools profile, police, and punish the poor. St. Martin’s Press.

Helsper, E. J. (2021). The Digital Disconnect: The Social Causes and Consequences of Digital Inequalities. Sage.

Marr, M., /Zillien, N. (2018). Digitale Spaltung. In: Schweiger, W./Beck, K. (Hrsg.). Handbuch Onlinekommunikation. Springer VS.

NTIA (National Telecommunications and Information Administration) (1995). Falling Through the Net – A Survey of the “Have-Nots” in Rural and Urban America. U.S. Department of Commerce, Washington DC.

NTIA (National Telecommunications and Information Administration)(1998): Falling Through the Net II: New Data on the Digital Divide. U.S. Department of Commerce, Washington DC.

O’Neil, C. (2017). Weapons of math destruction: How big data increases inequality and threatens democracy. Crown.

Renahy, E./Parizot, I./Pierre, C. (2008). Health information seeking on the Internet: A double divide? Results from a representative survey in the Paris metropolitan area, France, 2005–2006. BMC Public Health 8.

Rogers, E. M. (2003). Diffusion of Innovations. Free Press.

Tichenor, P. J./Donohue, G. A./Olien, C. N. (1970). Mass Media Flow and Differential Growth in Knowledge. In: Public Opinion Quarterly, 34(2), 159–170.

van Dijk, J. A. (2020). The Digital Divide. Polity Press.

Zillien, N./Hargittai, E. (2009). Digital Distinction: Status-Specific Types of Internet Usage. In: Social Science Quarterly 90, 274–291.