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Die Rolle der organisationalen Identität bei der digitalen Transformation von Unternehmen

Lesezeit: 11 Min.

Die innovative Nutzung digitaler Technologie ist schon seit Langem ein zentraler Überlebens- und Erfolgsfaktor für Unternehmen. Mit der Verbreitung von Computern ab den 1980erJahren und später des Internets wurden digitale Technologien immer wichtiger für ihre Konkurrenzfähigkeit am Markt, gingen aber auch mit kontinuierlichen innerbetrieblichen Veränderungen einher. Seit einigen Jahren wird nun konstatiert, dass Organisationen sich angesichts der immer schnelleren Entwicklungen im Bereich digitaler Technologien umfassend digital transformieren müssen. Eine solche digitale Transformation geht über die bisherigen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Implementierung digitaler Technologien hinaus. Bisherige digitale Innovationen zielten vorrangig auf die Optimierung und Effizienzsteigerung von Prozessen innerhalb des Unternehmens ab. Interne Prozesse sollten durch den Einsatz digitaler Technologien effizienter, effektiver, schneller und leichter werden. Damit haben sich zwar Organisations-, Management-, Kommunikations- und Arbeitsweisen im Unternehmen verändert, das Unternehmen im Kern blieb aber weitgehend unverändert. Die innovative Nutzung digitaler Technologien verändert aber nicht nur Prozesse innerhalb eines Unternehmens, sondern ermöglicht ganz neue digitale Geschäftsmodelle – und verändert somit letztlich das Unternehmen selbst. Damit rücken nun digitale Produktinnovationen immer stärker in den Mittelpunkt. Unternehmensprozesse sollen durch digitale Technologien nun nicht nur verbessert werden. Vielmehr eröffnen neue digitale Technologien, wie Big Data Analytics, Künstliche Intelligenz oder das Internet der Dinge, für Unternehmen ganz neue Möglichkeiten im Hinblick auf Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle.

Um solche digitalen Innovationen zu ermöglichen, sehen sich Unternehmen allerdings mit einem weitreichenden und umfassenden organisationalen Wandel konfrontiert, der auch grundlegende Veränderungen auf struktureller und kultureller Ebene ebenso wie im Bereich der Führung und der Kompetenzen umfasst [7], [12]. Diese Veränderungen treffen damit den Kern eines Unternehmens, sie erschüttern das Unternehmen gewissermaßen in seinen Grundfesten und stellen das bisherige Selbstverständnis des Unternehmens fundamental infrage. Digitale Transformation wird im eigentlichen Wortsinne zu einer Frage der organisationalen Identität. Sie wirft zwangsläufig die Frage auf: Wer sind wir als Organisation und wer wollen wir in Zukunft sein? [4].

Die organisationale Identität [1] – die Antwort der Organisationsmitglieder auf die Frage „Wer sind wir eigentlich als Organisation?“ – bildet jedoch zugleich einen wichtigen Orientierungs- und Bezugsrahmen im Unternehmen [8]. Sie verkörpert das, was die Organisation für ihre Mitglieder einzigartig macht, was sie eint und von anderen unterscheidet. Eine gemeinsam geteilte Organisationsidentität stellt eine Art Wegweiser oder Kompass im Unternehmen dar, der anzeigt, welche Handlungen im Sinne der Organisation angebracht oder unangebracht beziehungsweise erwünscht oder unerwünscht sind. Die organisationale Identität steckt damit den Handlungsrahmen ab und ermöglicht ein kollektives Handeln im Sinne der Organisation. Darüber hinaus bildet sie die Grundlage für ein Zusammengehörigkeitsgefühl und ist eng verbunden mit der Identifikation und Motivation der Organisationsmitglieder mit ihrem Unternehmen.

Wenn digitale Transformation nun umfassende und tiefgreifende Veränderungen der Prozesse, aber auch der Geschäftsmodelle des Unternehmens mit sich bringt, dann betreffen diese Veränderungsprozesse unmittelbar auch die organisationale Identität. In der Literatur wird daher diskutiert, ob die Entstehung einer neuen organisationalen Identität nicht sogar ein Definitionsmerkmal digitaler Transformation ist, ob also eine „echte“ digitale Transformation erst dann vorliegt, wenn sich auch die Identität eines Unternehmens geändert hat [13]. Unser aktuelles Forschungsprojekt zeigt, dass eine digitale Transformation nicht notwendigerweise die Entstehung einer neuen Identität mit sich bringt, wohl aber diese infrage stellt und verändern kann und dass nicht nur die digitale Transformation Einfluss auf die organisationale Identität hat, sondern auch umgekehrt. Es handelt sich also um einen wechselseitigen Zusammenhang [4].

Im Detail betrachtet lässt sich das weiter ausdifferenzieren. Einerseits bildet die etablierte organisationale Identität die Ausgangs- und Ermöglichungsbedingung für digitale Innovationen im Unternehmen. Sie bildet den Hintergrund, vor dem digitale Technologien und die damit verbundenen Potenziale wahrgenommen und bewertet werden, markiert die Grenzen des Vorstellbaren und stellt die Weichen für solche innerorganisationalen Veränderungsprozesse. Damit kann die organisationale Identität digitale Transformationsprozesse überhaupt erst ermöglichen und fördern, aber letztlich auch hemmen oder verhindern. Die organisationale Identität ist Mediator und Enabler für die digitale Transformation einer Organisation. Andererseits wirkt die digitale Transformation auf die etablierte Unternehmensidentität als Disruptor: Sie erschüttert das etablierte Selbstverständnis und stellt die bisherige organisationale Identität infrage. Die digitale Transformation führt in der Folge zur (Neu-)Aushandlungsprozessen über die (zukünftige) Identität. Wie diese Aushandlungsprozesse aussehen, hängt sowohl vom Ausmaß der mit der digitalen Transformation einhergehenden Veränderungen im Unternehmen ab, als auch davon, wie diese Veränderungen konkret umgesetzt werden [4]. Eine digitale Transformation kann durchaus zu konstruktiven und belebenden Diskursen und zu einer Anpassung oder Erweiterung der bisherigen organisationalen Identität führen, sie kann aber auch zu einer (für das Unternehmen und seine Mitglieder) problematischen „Identitätskrise“ führen, die mit großen Unsicherheiten und Orientierungslosigkeit einhergeht. Abbildung 1 zeigt diese Beobachtungen im Überblick.

Zusammenhang der organisationalen Identität mir digitaler Transformation beeinflusst durch Enabler und Disruptoren
Abbildung 1: Wechselbeziehung zwischen digitaler Transformation und organisationaler Identität
Quelle: Angela Graf

Für eine erfolgreiche digitale Transformation ist es daher wichtig, die etablierte organisationale Identität zu kennen und die digitalen Transformationsprozesse ebenso wie die (Neu-)Aushandlungsprozesse um die zukünftige Unternehmensidentität im Zuge dieser Transformationsprozesse bewusst und behutsam zu gestalten, um Resistenzen zu vermeiden und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu bewahren und in die Zukunft zu tragen.

Vergleichbarkeit mit analogen Phänomenen

Digitale Transformation ist eine spezifische, durch digitale Technologien induzierte Form des organisationalen Wandels, die mit weitreichenden und umfassenden Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen des Unternehmens einhergeht. Diese Veränderungen betreffen nicht nur technische, sondern auch soziale Aspekte und führen letztlich zur Infragestellung und (Neu-)Aushandlung der organisationalen Identität.

Auch andere organisationale Transformationsprozesse können mit weitreichenden Veränderungen auf unterschiedlichen Unternehmensebenen einhergehen und dadurch die organisationale Identität infrage stellen. Hierbei lassen sich verschiedene Formen des Organisationswandels grob danach unterscheiden, aus welcher Richtung die Veränderungen angestoßen werden. Zu den endogenen, unternehmensseitig induzierten Transformationsprozessen zählen beispielsweise Unternehmensfusionen oder Übernahmen, Rebrandingprozesse oder andere Formen der Restrukturierung. Auch Veränderungen in der Umwelt der Organisation, wie zum Beispiel Pandemien, Kriege oder die Forderungen nach ökologischer Nachhaltigkeit können einen organisationalen Wandel auslösen. Je nachdem, inwieweit der Kern des Unternehmens von diesen Veränderungen betroffen ist, können auch solche Transformationsprozesse zu einer Infragestellung der Identität oder sogar zu einer Identitätskrise führen. In der Literatur wird in diesem Fällen von Identity Threat gesprochen, der die Mitglieder der Organisation zwingt, sich mit der kollektiven Identität ihrer Organisation aktiv auseinanderzusetzen [10], [2], [9].

Im Vergleich zu diesen (teils weitreichenden) Organisationsveränderungen lassen sich für die digitale Transformation zwei Besonderheiten ausmachen.

Zum einen wird mit Blick auf die digitale Transformation von Unternehmen nach wie vor kontrovers diskutiert, ob diese jemals abgeschlossen ist oder ob es sich durch die fortlaufenden technologischen Entwicklungen um eine Transformation in Permanenz handelt. Müssen sich Unternehmen also kontinuierlich transformieren, um auf die immer neuen digitalen Technologien angemessen reagieren und diese für sich nutzen zu können? Eine solche digitale Transformation in Permanenz wäre für Unternehmen nicht nur mit großen Anstrengungen und Kosten verbunden, es würde auch die Möglichkeit von Effizienzentwicklungen hemmen und die Stabilität des Unternehmens insgesamt ins Wanken bringen. Oder kann es einem Unternehmen gelingen, seine Strukturen, Prozesse und Kompetenzen so zu transformieren, dass das Unternehmen in der Lage ist, auch zukünftige technologische Entwicklungen und neue digitale Technologien für sich zu nutzen und in digitale Innovationen und Geschäftsmodelle umzusetzen? An dieser Stelle muss die Frage offenbleiben, wie ein solches digital transformiertes Unternehmen aussehen und was es charakterisieren würde.

Zum anderen, damit aber eng verbunden, zeichnet sich die Entwicklung digitaler Technologien durch eine hohe Geschwindigkeit und eine erhöhte Veränderbarkeit aus. Anders als bei den anderen zuvor genannten Formen des Organisationswandels stellt die digitale Transformation eines Unternehmens eher ein Moving Target dar, einen Transformationsprozess, der sich insbesondere durch seine sequenzielle, iterative und nicht lineare Entwicklung auszeichnet [11]. Es ist eher eine digitale Reise, bei der das Ziel nicht klar von vorneherein feststeht. (Unvorhergesehene) Herausforderungen bei der Implementierung digitaler Technologien oder das Aufkommen neue Technologien (wie jüngst ChatGPT) veranlassen das Unternehmen dazu, sich immer wieder neu auszurichten und anzupassen. Zudem wird die digitale Transformation häufig durch Initiativen ‚von unten‘ getrieben, sodass bewusste, durch das Management entwickelte digitale Transformationsstrategien nicht nur vorläufig und vage sind, sondern auch nur einen Bruchteil der tatsächlich stattfindenden Transformationsprozesse ausmachen [5].

Gesellschaftliche Relevanz

Die Frage, wie Unternehmen ihre Identität im digitalen Zeitalter neu aushandeln und definieren, hat weitreichende gesellschaftliche Implikationen.

Für Unternehmen wird die innovative Nutzung digitaler Technologien im digitalen Zeitalter zunehmend zu einem zentralen Erfolgs- und Überlebensfaktor. Eine digitale Transformation bedeutet tiefgreifende und weitreichende Veränderungen und hat letztlich das Potenzial, das Unternehmen in seinem Kern zu verändern. Der Prozess der (Neu-)Aushandlung der organisationalen Identität im Zuge der digitalen Transformation ist dabei von essenzieller und normativer Natur. Ob ein Medienunternehmen im Zuge der digitalen Transformation sich beispielsweise weiterhin als Unternehmen mit Fokus auf die Erstellung von Inhalten (journalistische Selbstverständnis) versteht, oder sein organisationales Selbstverständnis in Richtung Tech-Unternehmen verschiebt und damit den Fokus auf die Bereitstellung und Orchestrierung von technischen Lösungen legt, hat Auswirkungen auf alle Bereiche des Unternehmens [5].

Damit stellt die digitale Transformation Unternehmen vor eine besondere Herausforderung – sie müssen sich neu (er)finden und dabei darauf achten, sich nicht selbst zu verlieren. Eine Identitätskrise im Zuge einer Transformation kann daher für ein Unternehmen durchaus existenzbedrohend werden, wenn es nicht gelingt, die Mitarbeitenden auf dieser digitalen Reise mitzunehmen – Unsicherheiten, Widerstände, Motivations- und damit Leistungsverluste können die Folge sein oder aber zu einem Scheitern der digitalen Transformation als solches führen. Die digitale Transformation beeinflusst damit nicht nur innerbetriebliche Strukturen und Umgangsformen, sondern letztlich auch regionale Wirtschaftsstrukturen und gesellschaftlichen Wohlstand.

Unternehmen sind nicht nur Wirtschaftsakteure, sondern prägen als Arbeitgeber, Innovationstreiber und gesellschaftliche Stakeholder maßgeblich unsere Lebenswelt. Insofern betrifft die organisationale Identitätssuche im Zuge einer digitalen Transformation nicht nur die Organisation als Ganzes, sondern auch die einzelnen Organisationsmitglieder. Arbeitsorganisationen bilden einen zentralen Bezugspunkt in der Lebenswelt und die Identifikation mit dem Unternehmen ist nicht selten ein wichtiger Bestandteil der persönlichen Identität. Die weitreichenden organisationalen Veränderungen, Verschiebungen in der Statusstruktur der Unternehmen, neue Kompetenzanforderungen am Arbeitsplatz und die Infragestellung der organisationalen Identität können daher letztlich auch zu persönlichen Identitätskrisen führen.

Schlussendlich kann die digitale Transformation von Unternehmen als eine Art Brennglas für digitale Transformationsprozesse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene betrachtet werden. Digitale Innovationen von Unternehmen in Form von neuen Geschäftsmodellen und neuen Produkten beeinflussen unser Verhalten und unsere Bedürfnisse als Konsumenten und verändern schließlich unsere Alltagswelt – die Art und Weise, wie wir miteinander leben, kommunizieren oder arbeiten. Sie haben damit nicht zuletzt das Potenzial, die Gesellschaft insgesamt ebenso grundlegend zu transformieren, wie dies auf Ebene der Organisationen der Fall ist. Es ließe sich daher die Frage aufwerfen, welche Auswirkungen eine solche digitale Transformation auf die Identität von Einzelnen, Gruppen oder auch ganzen Gesellschaften hat.

Quellen

  1. Albert, S./ Whetten, D. A. (1985). Organizational identity. In: Research in organizational behavior 7, 263–295.
  2. Elsbach, K. D./Kramer, R. M. (1996): Members` responses to organizational identity threats. Encountering and countering the business week rankings. In: Administrative Science Quarterly 41 (3), 442–476.
  3. Graf, A./Müller, L./Hess, Thomas (2022). Digitale Transformation als Identitätsfrage. Zum Zusammenhang zwischen organisationaler Identität und digitaler Transformation am Beispiel eines Maschinenbauunternehmens. In: AIS Studien 15 (2), 44–61.
  4. Graf, A. (2023). Exploring digital transformation`s impact on organizational identity with an archetype framework. In: Proceedings of the 56th Hawaii International Conference on System Sciences, 4224–4233. DOI: 103148.
  5. Hess, T. (2022). Digitale Transformation strategisch steuern: Vom Zufallstreffer zum systematischen Vorgehen. 2. Aufl.: Springer.
  6. Hess, T. et al. (2024). The Digital Journey of Hubert Burda Media. Hg. v. Institute for Digital Management and New Media, LMU München (WorkingPaper, 2024/1).
  7. Hess, T. et al. (2016). Options for formulating a digital transformation strategy. In: MIS Quarterly Executive 15 (2), 103–119.
  8. Kirchner, S. (2012). Wer sind wir als Organisation? Organisationsidentität zwischen Neo-Institutionalismus und Pfadabhängigkeit. Frankfurt am Main.
  9. Petriglieri, J./Devine, B. A. (2016). Mobilizing organizational action against identity threats. The role of organizational members` perceptions and responses. In: Pratt, M. G. et al. (Hg.). The Oxford handbook of organizational identity. Oxford.
  10. Ravasi, D./Schultz, M. (2006). Responding to organizational identity threats. Exploring the role of organizational culture. In: Academy of Management Journal 49 (3), 433–458.
  11. Sciuk, C. et al. (2023). A Journey, not a Destination—A Synthesized Process of Digital Transformation. Forty-Fourth International Conference on Information Systems.
  12. Vial, G. (2021). Understanding digital transformation. A review and a research agenda. In: Andreas Hinterhuber, A./Tiziano Vescovi; T./Checchinato, F. (Hg.). Managing digital transformation. Understanding the strategic process. London, 13–66.
  13. Wessel, L. et al. (2021). Unpacking the difference between digital transformation and IT-enabled organizational transformation. In: JAIS 22 (1), 102–129.