Definition und Abgrenzung
Digitale Gewalt ist ein Sammelbegriff für solche Nutzungen der digitalen Technologien, mit denen andere Menschen rechtswidrig angegriffen und unter Druck gesetzt werden. Der Begriff umfasst sehr heterogene Phänomene. Erfasst werden Hass und Hetze in den sozialen Medien genauso wie bildbasierte Ehrverletzungen durch die unerlaubte Verbreitung von intimen Aufnahmen oder deren Vergröberung durch Deepfakes, die ungebetene Konfrontation mit Pornografie, die digitale Verbreitung von Unwahrheiten, Nachstellungen und Bedrohungen. Die angegriffenen Rechtsgüter sind unterschiedlich; die Ehre und der soziale Geltungsanspruch, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Gleichheit der Betroffenen spielen auf der individuellen, der öffentliche Frieden auf der gesellschaftlichen Ebene eine herausgehobene Rolle. Immer mit angegriffen wird die Willensbildungs- und -betätigungsfreiheit: Die Betroffenen sollen herabgewürdigt, gedemütigt und „mundtot“ gemacht werden. Auch die digitalen Technologien, die dabei eingesetzt werden, können sehr unterschiedlich sein; Smartphones, Messenger und Mails können genauso genutzt werden wie die sozialen Medien und die vernetzten Spielewelten. Digitale Gewalt kann auf Einzelfälle beschränkt bleiben; sie kann aber auch wiederholt, systematisch und infolge von Filterblasen- und Echokammereffekten kumuliert auftreten; im letzteren Fall ist an das Phänomen des Shitstorms zu denken.
Es gibt mehrere Grundtypen der digitalen Gewalt. So kann digitale Gewalt aus einem individuellen Konflikt zwischen zwei Personen resultieren, die in einer Nähebeziehung zueinander stehen oder gestanden haben; ein Beispiel hierfür ist das Expartnerstalking durch Nutzung der elektronischen Kommunikationskanäle. Digitale Gewalt kann sich aber auch gegen Menschen richten, zu denen keine persönliche Beziehung besteht, denen aber mit Ablehnung und Hass begegnet wird. Dabei kann es sich um Angehörige benachteiligter Minderheiten handeln, die aus rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen, geschlechtsspezifischen oder gegen die sexuelle Orientierung gerichteten Gründen abgelehnt werden, es kann sich aber auch um Mandatsträger oder um Prominente handeln, die aus politischen Gründen, aus Neid oder Missgunst abgelehnt werden. Diese zweite Art von digitaler Gewalt hat eine über den individuellen Konflikt hinausgehende, gesellschaftliche Bedeutung: Die adressierten Personen werden in der Regel als Teil einer Gruppe angegriffen, der die Gleichstellung und die Gleichwertigkeit abgesprochen werden. Adressiert werden können im Übrigen nicht nur Personen, sondern auch Einrichtungen, Organisationen und Unternehmen, die Ablehnung und Hass auf sich ziehen.
Digitale Gewalt ist kein Rechtsbegriff. Es gibt keine Gesetze, die den Begriff verwenden, um hieran Rechtsfolgen zu knüpfen. Es gibt zwar Strafgesetze, die den Begriff der Gewalt kennen; der Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB) ist hierfür ein Beispiel. Gewalt ist in diesen Gesetzen jedoch immer als körperliche Gewalt zu verstehen, die durch die Entfaltung von körperlicher Kraft oder durch eine physische Einwirkung sonstiger Art bewirkt wird. Digitale Gewalt wirkt dagegen auf der emotionalen und der kognitiven Ebene über die ausdrücklichen oder codierten Botschaften, die mit der Handlung übermittelt werden. Die Botschaften sollen ein Machtungleichgewicht zum Ausdruck bringen; sie sollen die Handlungsmacht der sendenden und die Ohnmacht der adressierten Person verdeutlichen. Es soll deutlich werden, dass die Betroffenen nicht als Gleiche anerkannt werden. Die Betroffenen sollen ausgegrenzt werden. Sie sollen Unbehagen und Angst spüren und sich entsprechend der ihnen zugewiesenen Stellung verhalten.
Geschichte
Der Begriff der digitalen Gewalt stammt aus der Zivilgesellschaft, die sich seit dem Ende der 2010er-Jahre gegen digitale Gewalt stark macht. Beratungsstellen wie HateAid spielen in der Verbreitung des Wissens um das Phänomen eine wichtige Rolle.
Erstmals breitere Aufmerksamkeit fand das Phänomen im Jahr 2019, als die Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen Renate Künast mit Unterstützung von HateAid wegen der Verbreitung von Hasskommentaren gegen eine Social-Media-Plattform vorging. Nachdem die Vorinstanzen den Anspruch auf Auskunft über die Bestandsdaten eines Accounts zunächst ganz bzw. teilweise abgewiesen hatten, war Künast zwei Jahre später vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Dezember 2021 – 1 BvR 1073/20).
Im April 2023 legte das Bundesjustizministerium ein Eckpunktepapier vor, in dem der Begriff der digitalen Gewalt erstmals zum Anknüpfungspunkt für rechtliche Regelungen gemacht wurde. Geplant ist ein Gesetz gegen digitale Gewalt, mit dem die rechtlichen Möglichkeiten gestärkt werden sollen, um hiergegen wirksam vorgehen und u. a. Accountsperren erwirken zu können.
Anwendung und Beispiele
Digitale Gewalt tritt in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Quantitativ die größte Bedeutung haben Hass und Hetze, die über das Netz verbreitet werden. Von Hasspostings spricht das Bundeskriminalamt dann, wenn sich aus der Äußerung Anhaltspunkte dafür ergeben, dass sie gegen eine Person oder eine Gruppe wegen ihrer politischen Haltung, Einstellung, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, sexuellen Orientierung, ihres äußeren Erscheinungsbilds oder ähnlicher diskriminierungsgeeigneter Merkmale gerichtet ist. Für diese Hasspostings gibt es keinen eigenen Straftatbestand. Sie können allerdings die Straftatbestände der Beleidigung (§ 185 StGB), Nötigung (§ 240 StGB), Bedrohung (§ 241 StGB), Volksverhetzung (§ 130 StGB) oder andere Tatbestände erfüllen und in diesem Fall zu strafrechtlichen Ermittlungen und Bestrafung führen. Ebenfalls sehr häufig ist das unerbetene Zusenden intimer Bilder oder Videos („dickpics“, „nudes“), was einen strafbaren Verstoß gegen das Konfrontationsverbot (§ 184 Abs. 1 Nr. 6 StGB) darstellt. Etwas seltener sind die Fälle, in denen anderen, z. B. ehemaligen Partnerinnen oder Partnern, digital nachgestellt wird (§ 238 StGB), in denen unbemerkt und unerlaubt (z. B. während des Schlafens oder auf der Toilette) intime Bilder oder Videos hergestellt oder verbreitet werden (§ 201a StGB) oder in denen Personen, Bewegungsabläufe oder Daten rechtswidrig ausgespäht und die erlangten Informationen an Dritte weitergeleitet werden (§ 202a StGB).
Kritik und Probleme
Kritik am Konzept der digitalen Gewalt richtet sich auf der einen Seite gegen die Unbestimmtheit des Begriffs. Befürchtet wird, dass mit ihm der Begriff der physischen Gewalt entwertet und bagatellisiert werde.[1] Kritik richtet sich auf der anderen Seite dagegen, dass das Problem nicht ernst genug genommen werde.[2] Als Beispiel wird insoweit auf das Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums aus dem April 2023 verwiesen: Das Papier konzentriere sich vor allem auf den Bereich der Hatespeech und lasse die anderen Formen digitaler Gewalt unberücksichtigt; insgesamt sei kein schlüssiges Konzept erkennbar.
Forschung
Angesichts der unterschiedlichen Formen, in denen digitale Gewalt auftreten kann, sind zusammenfassende Aussagen über ihre Häufigkeit und Verbreitung schwierig. Über eine spezifische Form, nämlich die digital verbreitete verbale Gewalt (Hasspostings), lassen sich Erkenntnisse zur Häufigkeit aus dem Kriminalpolizeilichen Meldedienst Politisch motivierte Kriminalität (KPMD-PMK) des Bundeskriminalamts gewinnen. Im Jahr 2022 handelte es sich dabei um 3.396 Straftaten, die strafrechtlich überwiegend als Volksverhetzung oder als Beleidigung einzuordnen waren. Für 2021 waren vom Bundeskriminalamt insoweit lediglich 2.411 Straftaten angegeben worden, was einem Anstieg von 40,9 % zu 2022 entspricht.[3] In den Zahlen des KPMD-PMK spiegeln sich die besonderen Bewertungs- und Selektionsprozesse wider, die die bekannt gewordenen Delikte bei der Polizei durchlaufen. Im Dunkelfeld der Kriminalität, das mit repräsentativen Befragungen ausgeleuchtet werden kann, sind die Häufigkeitszahlen deutlich höher.
Hinzuweisen ist namentlich auf den Bericht „Sicherheit und Kriminalität in Deutschland“, der bundesweit repräsentativen Dunkelfeldstudie des Bundeskriminalamts (SKiD 2020). Die Prävalenzrate der innerhalb der letzten zwölf Monate von verbaler Onlinegewalt betroffenen Personen lag danach im Jahr 2020 bei 4,4 %, die Prävalenzrate des Einzeldelikts „Persönliche Beleidigung im Internet“ bei 4,6 % und des Einzeldelikts „Gewaltandrohung online“ bei 1,6 %.[4] Die Zahlen belegen, dass die Hellfelddaten des KPMD-PMK lediglich die Spitze des Eisbergs darstellen. Die weiteren Auswertungen des SKiD 2020 zeigen, dass die Zahl der Mehrfachviktimisierungen bei den Onlinedelikten auffällig hoch ist: Diejenigen Personen, die angaben, überhaupt Opfer verbaler Onlinegewalt geworden zu sein, erlebten durchschnittlich zwölf Ereignisse.
Männer waren häufiger betroffen als Frauen; die Prävalenzraten lagen im SKiD 2020 bei 4,8 % bzw. 4,1 %, allerdings war der Unterschied nicht signifikant.[5] In eigenen Erhebungen, die sich nur mit dem Thema digitale Gewalt beschäftigten, ließ sich insoweit zeigen, dass sich die Geschlechterunterschiede umkehren, wenn gezielt nach sexualisierter verbaler Gewalt gefragt wird, z. B. nach erlebten sexistischen Äußerungen oder sexualisierten Bedrohungen. In diesem Fall geben Frauen signifikant höhere Werte an als Männer. Die Art der Frageformulierung hat Einfluss auf das Ergebnis.[6] Im Übrigen zeigen Dunkelfeldstudien, die in manchen Bundesländern auch von den Landeskriminalämtern durchgeführt werden, dass die binäre Gegenüberstellung männlich – weiblich die Problematik der digitalen Gewalt nicht ausschöpft: In einer niedersächsischen Befragung wurden bei den Social-Media-Delikten die höchsten Werte von denjenigen Personen angegeben, die sich gerade nicht einem der beiden Geschlechter zuordnen konnten.[7]
Weiterführende Links und Literatur
- Ballon J. (2021) .Schutz vor digitaler Gewalt. In: Streit, 4, S. 147–151.
- Hajok, D. (2023). Digitale sexuelle Gewalt: Erfahrungen junger Menschen und Handlungsbedarfe. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 1, S. 56–62.
- Meier, B. D./Ballon, J. (2023). Digitale Gewalt gegen Frauen. In: T.-G. Rüdiger, T.-G./Bayerl, S. (Hrsg.), Handbuch Cyberkriminologie, Tb. 2: Phänomene und Auswirkungen. Wiesbaden, 189–232.
- Meier, B. D. (2023). Normal und ubiquitär? Digitale Gewalt unter Studierenden. In: Beisel, H. et al. (Hrsg.). Festschrift für Dieter Dölling. Baden-Baden, 847–858.
- Rafael, S. (2020). Digitale Gewalt und Handlungsmöglichkeiten für Opfer. In: Slama, B. B./Kemmesies, U. (Hrsg.). Handbuch Extremismusprävention. Wiesbaden,2020, 721–727.
Quellen
[3] Politisch motivierte Kriminalität im Jahr 2022. Bundesweite Fallzahlen, S. 13.
[4] Sicherheit und Kriminalität in Deutschland (SKiD 2020), S. 35, 36.
[5] Sicherheit und Kriminalität in Deutschland (SKiD 2020), S. 38.