Die Arbeitswelt Palliative Care zeichnet sich durch einen ganzheitlichen, personenzentrierten Versorgungsansatz aus, der sich an den subjektiven Bedürfnissen Patient:innen und deren Angehörigen ausrichtet. Im Zentrum stehen nicht Heilung oder Prävention, sondern die Minderung physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Leids. Ihr professionelles Selbstverständnis beruht daher auf dem Grundsatz multiprofessioneller Zusammenarbeit, die unterschiedliche Kompetenzen und Perspektiven integriert, um Patient:innen und Angehörige bestmöglich zu versorgen und zu begleiten. Aufgrund der besonderen Rahmenbedingungen ist der Palliativbereich bezüglich der Digitalisierung deutlich skeptischer und bislang in geringerem Maße transformiert als andere medizinische Bereiche. Doch auch in der Palliativversorgung nehmen Digital-Health-Anwendungen zu. Im Einsatz sind beispielsweise Health-Technologien zum Symptommanagement oder Monitoring von Vital- und Bewegungsparametern, Telemedizin und elektronische Dokumentationssysteme (DGP 2022; Ott et al. 2023). Mehrheitlich wird hierbei die Ebene Patientin/Patient/Angehörige – Gesundheitspersonal adressiert.
Das am bidt angesiedelte Projekt PALLADiUM legt den Fokus hingegen auf die multiprofessionelle Zusammenarbeit und zeigt, dass palliativspezifische, praxistaugliche digitale Innovationen Kommunikations- und Kollaborationsprozesse stärken sowie den Informations- und Wissensfluss – und damit die Versorgung von Patient:innen – verbessern können. Wesentlich ist hierbei, wie jeweils relevante Informationen und das (Fall-/Fach-)Wissen der Teammitglieder für ein gemeinsames Fallverständnis verfügbar und nutzbar gemacht werden können (Schneider/Stadelbacher 2018).
In der multiprofessionellen Palliativarbeit findet ein intensiver Austausch von Information und Wissen zwischen den verschiedenen beteiligten Akteuren (z. B. Gesundheitspersonal, Patient:innen, Angehörige) statt. Informationen sind – abseits der jeweiligen konkreten Zugangsmöglichkeiten und der Frage, wann welche Information für wen relevant ist – prinzipiell für alle verfügbar. Während eine Information (objektiv) dekontextuiert für sich steht, verstanden und geteilt werden kann (z. B. „Frau Müller zur Neuaufnahme in Zimmer 7 ist da.“), bedarf es Wissen (subjektiv und intersubjektiv geteilt), damit Informationen handlungswirksam werden können: Was bedeutet diese Information und inwiefern ergibt sich daraus welche Handlungsrelevanz (z. B. „Die Patientin möchte viel ihr Leid klagen. Mein Eindruck ist, das ist psychisch überlagert.“)? Neben einer zielgerichteten, patienten- und situationsbezogenen Informationsübermittlung zwischen den verschiedenen beteiligten Professionen ist essenziell, dass digitale Innovationen auch relevante Wissensaspekte (z. B. Erfahrungswissen, jeweils vorhandenes Fallwissen, Bauchgefühl) berücksichtigen sowie Grenzen dessen, was sinnvoll digitalisierbar ist, ernst nehmen (Huchler 2017; Weihrich/Jungtäubl 2022). Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang etwa die Bedeutsamkeit von Face-to-Face-Interaktion im und für das Team (z. B. hinsichtlich gemeinsamer Situationsverarbeitung oder teaminterner Reflexion), die sich einer Digitalisierung weitgehend versperrt.
Vergleichbarkeit mit analogen Phänomenen
Wissensdivergenzen in Form von unterschiedlichen Perspektiven, Relevanzsetzungen, Situationsdefinitionen oder als sinnvoll bewertete Behandlungslogiken sind zwar – im Sinne von normal – gleichsam alltäglich, haben aber einen unmittelbaren Effekt auf die multiprofessionelle Zusammenarbeit (führen beispielsweise zu Missverständnissen und Misstrauen) sowie konkreten Praxisentscheidungen und können den jeweiligen Handlungsauftrag verzögern oder erschweren. Der gezielte Einbezug von Wissen/Wissensaspekten bei der Entwicklung – hier palliativspezifischer – digitaler Technologien trägt zur Sichtbarkeit berufsgruppen- und personenbezogener Relevanzsetzungen und Wissensdivergenzen im Team bei, macht diese reflexiv zugreifbar und damit bearbeitbar.
Der Mehrwert wissensbasierter digitaler Innovationen im Bereich Palliative Care liegt mit Blick auf die genannten Enabler u. a. in einer erhöhten Veränderbarkeit etablierter bzw. bislang nicht hinterfragter Inhalte und Prozesse (Dokumentation, Abwägungen, Entscheidungen) sowie der Nutzbarmachung und Objektivierung der Fülle an unstrukturierten Daten, die in der täglichen Dokumentation anfallen. Eine gemeinsame Situationsdefinition des Teams im Sinne eines kollektiv geteilten Verständnisses dazu, was der Fall ist, also was wann weshalb/wozu von wem zu tun/nicht zu tun ist, wird befördert – und damit die kontinuierliche Patienten(weiter)versorgung gestärkt.
Gesellschaftliche Relevanz
Die streng nutzerorientierte Bearbeitung des Digitalisierungsdefizits in Palliative Care hat eine doppelte gesellschaftliche Relevanz: Zum einen zeigt sie exemplarisch für vergleichbare Arbeitswelten (z. B. stationäre Hospize, Geriatrie, ambulante Palliativversorgung) neue Lösungswege auf, um das Spannungsfeld Digitalisierung – informelles Arbeiten aufzulösen, sensibilisiert für die Bedarfe und gibt den beteiligten/betroffenen Akteuren durch direkte Partizipation Gestaltungsmöglichkeiten. Zum anderen steigt die gesundheitspolitische Bedeutung von Palliative Care aufgrund der demografischen und auch epidemiologischen Entwicklung in Deutschland und der westlichen Welt perspektivisch immer weiter und damit auch der Bedarf an passenden digitalen Innovationen.
Quellen
- Huchler, N. (2017). Grenzen der Digitalisierung von Arbeit – Die Nicht-Digitalisierbarkeit und Notwendigkeit impliziten Erfahrungswissens und informellen Handelns. In: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 71(4), 215–223. https://doi.org/10.1007/s41449-017-0076-5 [20.07.2024].
- Ott, T. et al. (2023): Palliative care and new technologies. The use of smart sensor technologies and its impact on the Total Care principle. BMC Palliative Care 22, 50. https://doi.org/10.1186/s12904-023-01174-9 [20.07.2024].
- Positionspapier der Arbeitsgruppe Digitalisierung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (2022): Digitalisierung in der Palliativversorgung. Chancen und Herausforderungen. https://www.dgpalliativmedizin.de/ images/221121_Arbeitspapier_Digitalisierung.pdf [20.07.2024].
- Schneider, W./Stadelbacher, S. (2018). Palliative Care und Hospiz: Versorgung und Begleitung am Lebensende. In: Jungbauer-Gans, M./ Kriwy, P. (Hg.): Handbuch Gesundheitssoziologie. Wiesbaden, 1–29.
- Weihrich, M./Jungtäubl, M. (2022). Interaktionsarbeit in der Pflege und die Janusköpfigkeit der Digitalisierung. In: Manzei-Gorsky, A./Schubert, C./von Hayek, Julia (Hg.): Digitalisierung und Gesundheit. Gesundheitsforschung. Interdisziplinäre Perspektiven (Band 4). Baden-Baden, 169–205.