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Digitale Erinnerungskultur

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Die Gespräche mit lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen stellen einen integralen Bestandteil der Bildungsarbeit im Bereich der Holocaust-Bildung in Bayern dar. Bei dem Aufeinandertreffen von Zeuginnen und Zeugen des Holocaust und Lernenden geht es weniger darum, deklarative Wissensbestände durch die mündlichen Berichte der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu erwerben oder wiederholen. Vielmehr soll das historische Wissen um persönliche und emotionale Komponenten erweitert werden, indem das subjektive Erleben des historischen Ereignisses und dessen unmittelbare und langfristige menschliche Auswirkungen aus einer individuellen Perspektive nachvollzogen werden [1]. Diese Auseinandersetzung mit mündlichen, synchron stattfindenden Gesprächen und der autobiografischen Erzählung kann zu einer Perspektivenerweiterung der Zuhörenden im Bereich des historischen Lernens führen. Zudem bieten die anschließenden Fragerunden den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, diejenigen Fragen an die Zeitzeugin/den Zeitzeugen zu stellen, die sie selbst beschäftigen und die in der schulischen wie außerschulischen Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust unter Umständen bislang unbeantwortet blieben.

Gespräche mit lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden in absehbarer Zeit nicht mehr möglich sein, weswegen es notwendig ist, nach alternativen Wegen zu suchen, wie die Erinnerungen der Überlebenden auch nach ihrem Tod für nachfolgende Generationen in zeitgemäßen Medienformaten zugänglich gemacht werden können [2]. Auch gilt es das interaktive Moment, das bei den Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vor allem in der Frage-Antwort-Interaktion zutage tritt, zu erhalten. Digitale Medien erlauben die Nachahmung dieser Zeitzeugengespräche zumindest im Ansatz.

Im Münchener Projekt LediZ (Lernen mit digitalen Zeugnissen) wurden hierfür zwischen 2018 und 2020 drei sogenannte interaktive digitale Zeugnisse der Überlebenden Eva Umlauf, Zilli Schmidt und Abba Naor entwickelt. Im Gegensatz zum bloßen Ansehen von videografierten Zeitzeugenberichten können die Nutzerinnen und Nutzer bei den interaktiven Zeugnisformen per Spracheingabe Fragen an das digitale Konterfei der/des Überlebenden stellen und erhalten (soweit vorhanden) einen passenden Videoclip als Antwort. Diese Videos entstammen einem im Vorfeld geführten und videografierten Interview, in dem die Überlebenden circa 1000 Fragen zu verschiedenen Themen und Lebensabschnitten beantworteten [3]. Die Entwicklerinnen und Entwickler legten bei der Zeugnisproduktion Wert darauf, dass die Antworten in der späteren digitalen Interaktion nicht aus dem Videomaterial generiert, sondern in unveränderter Form beibehalten werden. Die Zuordnung von passenden Antworten zu den gestellten Fragen geschieht mithilfe einer automatisierten Spracherkennung und -verarbeitung innerhalb weniger Sekunden. Durch das System falsch zugeordnete Antworten können im Nachhinein korrigiert und die Genauigkeit des verwendeten KI-gestützten Systems fortlaufend verbessert werden. Durch dieses digitale Frage-Antwort-Format kann die Linearität der Erzählung, wie sie zum Beispiel bei traditionellen videografierten Zeitzeugenberichten vorhanden ist, durchbrochen werden, und Fragende können selbst entscheiden, über welchen biografischen Abschnitt oder persönlichen Aspekt sie mehr erfahren möchten. Allerdings ist es auch möglich (und sinnvoll), zunächst die Geschichte der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als längere zusammenhängende Erzählung zu hören. Der Einsatz der interaktiven digitalen Zeugnisse kann sich folglich an dem zweiteiligen Ablauf der analogen Zeitzeugengespräche orientieren [4].

Eine weitere Möglichkeit der digitalen Erschließung von Überlebendenberichten stellt das aktuelle Projekt an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Zeitzeugen Ernst Otto Krakenberger dar, dessen Erinnerungen in Form einer Chat-Interaktion von Nutzerinnen und Nutzern erschließbar werden sollen. Eine Besonderheit bei diesem Projekt liegt darin, dass die Antworten nicht wie bei einer traditionellen Chat-Interaktion als Textnachricht an die Fragenstellende/den Fragenstellenden gesendet, sondern wie bei Sprachnachrichten im Audioformat ausgegeben werden. Dadurch bleiben paraverbale Informationen (wie zum Beispiel Intonation, Lachen und Seufzen) erhalten, die bei einer rein verbalen Antwort in Textform nur in distanzierterer und teils kitschiger Weise realisiert werden könnten (zum Beispiel durch die Verwendung von Emojis). Aus wissenschaftlicher Perspektive ist diese Form des Erinnerungsmediums auch deswegen interessant, da sie Aufschluss darüber geben kann, ob sich die Interaktion – und insbesondere die Fragen – im Vergleich zu der Interaktion mit den interaktiven digitalen Zeugnissen, bei denen das Konterfei der Überlebenden permanent sichtbar ist, verändert.

Einen anderen Ansatz verfolgt die 2023 finalisierte Virtual-Reality-Anwendung „Eva Umlauf – ihr Zeugnis“, die einen Blick auf die Metaebene von Zeugenschaft erlaubt. Für dieses Medium wurde die Holocaustüberlebende Eva Umlauf bei der Erzählung verschiedener Episoden aus ihrem Leben volumetrisch aufgezeichnet. Diese fotorealistischen 3-D-Aufnahmen wurden gemeinsam mit weiteren Medieninhalten (Fotografien, Ausschnitte aus früheren Videointerviews, Hinweise auf die Autobiografie) in dreidimensional modellierte Umgebungen eingebettet. So entstand eine Virtual-Reality-Experience, in der sich Lernende in einer Kombination aus biografischen und historischen Informationen mit den lang anhaltenden Wirkungen des Holocaust sowie der jahrzehntelangen Entwicklung der Zeugenschaft und ihrer medialen Rahmung und Gestaltung auseinandersetzen können. Die Möglichkeit des Fragenstellens ist hier nicht gegeben. Stattdessen können sich Nutzerinnen und Nutzer entdeckend, auswählend und vergleichend durch den medialen Erfahrungsraum bewegen.

Vergleichbarkeit mit analogen Phänomenen

Besonders die interaktiven digitalen Zeugnisse der beiden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Eva Umlauf und Abba Naor orientieren sich ihrer Konzeption nach an Gesprächen mit lebenden Zeuginnen und Zeugen, wie sie beispielsweise an Schulen oder Gedenkstätten stattfinden beziehungsweise stattgefunden haben. Dieser Ablauf beinhaltet anfangs einen autobiografischen Bericht der/des Überlebenden über ihr/sein Leben vor, während und nach dem Holocaust. Im Anschluss daran können die Zuhörenden mit der/dem Überlebenden ins Gespräch kommen und individuelle Fragen stellen.

Ein Vorteil des Einsatzes interaktiver digitaler Zeugnisse kann es sein, dass Lernende anonymisiert und auch in einer privaten Umgebung Fragen stellen können, ohne dass diese auf sie als Person zurückgeführt werden können. Die Fragestellenden müssen ferner auch nicht fürchten, dass sie die Zeitzeugin/den Zeitzeugen durch ihre Fragen verärgern oder kränken, was zu einer freieren Form der Interaktion führen kann und Fragemöglichkeiten eröffnet, die im realen Aufeinandertreffen so nicht möglich wären.

Im Gegensatz zu den analogen Zeitzeugengesprächen sind die Antwortmöglichkeiten der digitalen Zeugnisse begrenzt, da deren Antworten aus (videografierten) Interviews stammen und in unveränderter Form als Reaktion auf eine entsprechende Frage abgespielt werden. Damit soll einerseits die Glaubwürdigkeit des medial vermittelten Inhalts sichergestellt werden, andererseits sind die abgespielten Antworten somit immer an denjenigen Zeitpunkt gebunden, an dem das Interview durchgeführt wurde. Auf Fragen zu späteren zeitgeschichtlichen Ereignissen, wie beispielsweise dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, können diese Zeugnisformen daher keine Antwort mehr geben. Ferner zeigt sich, dass Lernende bei der Interaktion mit diesen Medienformen – auch aufgrund fehlenden historischen Wissens – oftmals auf die Präzisierung der Fragen durch eine moderierende Person angewiesen sind. Auch die Antworten, die nicht an den individuellen Alters- und Wissensstand der/des Fragestellenden angepasst werden können, müssen gegebenenfalls durch eine Begleitperson kontextualisiert werden. Wie die aufgezeichneten Fragen sind auch die Medien in ihrer Ausgestaltung relativ starr und können nur bedingt an den Medienwandel sowie die Medien- und Interaktionsgewohnheiten der Nutzerinnen und Nutzer angeglichen werden.

Obgleich sich die interaktiven digitalen Zeugnisse in ihrer Konzeption an analogen Zeitzeugengesprächen orientieren, verstehen sie sich nicht als Ersatz für diese, sondern vielmehr als einen Teil eines größeren Medienverbundes um die Autobiografie der/des jeweiligen Holocaustüberlebenden.

Gesellschaftliche Relevanz

Mit fortschreitendem zeitlichen Abstand und den fehlenden innerfamiliären Bezügen zum Holocaust und zum Zweiten Weltkrieg gilt es, neue und zeitgemäße Wege zu finden, um Lernenden die persönlichen Erfahrungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in einer medial angemessenen Form zugänglich zu machen. Vergleichsweise neue Medienformate wie interaktive digitale 3-D-Zeugnisse und Chatbots erlauben es Schülerinnen und Schülern, individuelle Fragen zu stellen und somit einen persönlichen Zugang zum Thema zu finden sowie bereits vorhandenes Wissen zu erweitern. Zusätzlich sind diese medialen Formen immer auch als Teil eines Medienverbundes zu sehen und können demgemäß als Ausgangspunkt dazu dienen, sich mit weiteren Medien (Büchern, Filmen et cetera) dieses Verbundes auseinanderzusetzen, was im Fall der VR-Experience bereits im Medium selbst angelegt ist. Die Beschäftigung mit dem und das Erinnern an den Holocaust sollen die Lernenden für die Konsequenzen sensibilisieren, die Ausgrenzung und Diskriminierung haben können. Ferner sollen die Schülerinnen und Schüler darin bestärkt werden, als mündige Bürgerinnen und Bürger aktiv gegen Diskriminierung in der analogen wie auch digitalen Welt einzutreten. Beides stellt elementare Bildungs- und Erziehungsziele dar. Um Lehrkräfte sowie Pädagoginnen und Pädagogen bei dieser Aufgabe zu unterstützen, wurde eine kostenlose Handreichung entwickelt, die zahlreiche Vorschläge und Empfehlungen zum Einsatz der hier beschriebenen und weiterer digitaler Medien enthält [5].

Quellen

  1. Ballis, Anja; Duda, Florian (2021): Zwischen Mensch und Maschine? – Schüler*innen befragen das digitale 3D-Zeugnis eines Holocaust-Überlebenden. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 68 (3), S. 284–291.
  2. Ballis, Anja; Gloe, Markus (2019): Von der „-Losigkeit“. In: Anja Ballis, Markus Gloe (Hrsg.): Holocaust education revisited. Wahrnehmung und Vermittlung, Fiktion und Fakten, Medialität und Digitalität. Wiesbaden, Heidelberg: Springer VS (Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung), S. 3–20.
  3. Duda, Florian (2021): „Was war oder ist Ihre schönste, tollste und angenehmste Kindheitserinnerung?“ Ein sprachwissenschaftlicher Ansatz zur Machine-Learning-Datengenerierung. In: Florian Duda, Fabian Heindl, Ernst Hüttl, Daniel Kolb, Lisa Schwendemann, Anja Ballis, Markus Gloe (Hrsg.): Interaktive 3D-Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden. Chancen und Grenzen einer innovativen Technologie (Eckert. Dossiers, 1 (2021)), S. 43–62.
  4. Richardson, Alasdair (2021): Touching distance: young people’s reflections on hearing testimony from Holocaust survivors. In: Journal of Modern Jewish Studies, S. 1–24.
  5. Ballis, Anja; Schwendemann, Lisa; Gloe, Markus (2023): Lehren und Lernen mit Zeugnissen Holocaust-Überlebender in XR. Eine Handreichung für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. München: Ludwig-Maximilians-Universität.