| Glossar | Politik & Regulierung | Digitale Souveränität

Definition und Abgrenzung

Das Konzept der digitalen Souveränität hat sich in den letzten Jahren zu einem neuen Schlüsselbegriff der deutschen und europäischen Digitalpolitik entwickelt. So berufen sich nicht nur Vertreterinnen und Vertreter des gesamten Parteienspektrums darauf, um ihren Forderungen nach mehr Autonomie, Handlungs- und Entscheidungshoheit im Digitalen Ausdruck zu verleihen. Auch Akteurinnen und Akteure aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft nutzen den Begriff, um mehr individuelle und kollektive Selbstbestimmung über die Entwicklung und Nutzung von digitalen Technologien zu fordern [1], [2], [3].

Aufgrund seiner Prominenz kommen dem Konzept der digitalen Souveränität viele unterschiedliche Bedeutungen zu. Unabhängig von seiner Verwendung im digitalen Kontext bezieht sich der Begriff der Souveränität auf die Fähigkeit, selbstbestimmt und frei von Fremdherrschaft agieren zu können. Bedeutend ist auch die rechtswissenschaftliche Auslegung, nach welcher der Souveränitätsbegriff für die Selbstbestimmungsfähigkeit eines Rechtssubjekts steht. Das Digitale beschreibt in diesem Zusammengang nicht den Gegensatz zum Analogen, das nur auf den Einsatz von Computertechnologie hinweist. Vielmehr muss die Bedeutung in den Kontext des gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses der Digitalisierung eingebettet werden. Dieser zeichnet sich durch zwei miteinander verflochtene Entwicklungen aus: erstens die Verbreitung und Nutzung digitaler Vernetzungstechnologien sowie zweitens die starke Zunahme digitaler Datensammlungen und grenzüberschreitender Datenströme [4].

Digitale Souveränität bezieht sich auf beide Dimensionen und umfasst somit sowohl die technologische Souveränität als auch die Datensouveränität. Beides sind verwandte Begrifflichkeiten (wie auch die beispielsweise die Informations- oder Cyber-Souveränität), können jedoch als Unterkategorien der digitalen Souveränität angesehen werden. Während sich diese Unterkategorien entweder nur auf die Kontrolle von technischen Ressourcen und Informationsflüssen bzw. die Selbstbestimmung über Daten oder auf Cybersicherheit beziehen, umfasst digitale Souveränität zusätzlich noch rechtliche, soziale und wirtschaftliche Aspekte [5].

Ein sehr breites Verständnis von digitaler Souveränität umfasst somit die Fähigkeit von Staaten, Unternehmen und Individuen, ihre digitalen Infrastrukturen, Technologien, Dienste und Daten selbstbestimmt und unabhängig kontrollieren, gestalten und nutzen zu können. Diese Selbstbestimmung bezieht sich auch auf den Schutz vor fremder Einflussnahme im digitalen Raum und die Möglichkeit, eigene digitale Strategien zu entwickeln und umzusetzen [4].

Geschichte

Die Diskussion um Souveränität begleitet die Verbreitung des Internets als globale digitale Infrastruktur seit der Anfangszeit. Ursprünglich wurde jedoch dem Cyberspace selbst eine eigene Souveränität zugesprochen. Die neu erschlossene digitale Sphäre wurde als freier und unregulierter Raum betrachtet, der sich jeglicher Einflussnahme durch Regierungen sowie der Kontrolle durch staatliche Institutionen entzog [7]. Diese Überzeugung verlor jedoch über die Jahre an Bedeutung. Die aktuellen Forderungen nach digitaler Souveränität drücken eher aus, dass das Internet mittlerweile nicht mehr als Hindernis für die Ausübung staatlicher Macht betrachtet wird. Vielmehr versuchen Regierungen, ihre staatliche und wirtschaftliche Souveränität sowie die Selbstbestimmungsfähigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger auch im digitalen Raum durch Gesetze, Regulierung und technische Interventionen durchzusetzen. 

Ursprünglich beriefen sich dabei vor allem autoritäre Länder wie China und Russland auf den Souveränitätsbegriff, um ihre digitalpolitische Außen- und Innenpolitik zu rechtfertigen [7], [8]. Nach und nach auch von anderen BRICS-Ländern Brasilien, Indien und Südafrika übernommen [9], findet der Begriff der digitalen Souveränität bzw. technologischen Souveränität seit 2013 auch in Europa [4], [5] sowie jüngst auch in Ländern des sogenannten Globalen Südens sowie des südlichen Mittelmeerraums eine immer stärkere Verwendung [10]

In Europa, insbesondere in Frankreich und Deutschland, kamen nach den Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2013 über die Überwachungspraktiken der NSA und verbündeter Geheimdienste verstärkt Forderungen auf, die nationale Sicherheit, die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger sowie den digitalen Binnenmarkt durch eine stärkere Regulierung digitaler Infrastrukturen, Dienste und Datenströme zu schützen [11], [12]. Im Jahr 2020 wurde das Streben nach digitaler Souveränität offiziell zum Hauptziel der digitalpolitischen Agenda der EU erklärt [13] und ist seither in einer Vielzahl von politischen Dokumenten und Regulierungsinitiativen institutionalisiert worden. Dieses Ziel ist dabei nicht nur nach innen gerichtet, sondern hat zudem eine externe geopolitische Dimension. Diese richtet sich darauf, durch eine werte- und menschenorientierte europäische Digitalpolitik einen alternativen normativen Rahmen zu schaffen, der auch für andere Länder neben dem marktliberalen US-amerikanischen und dem staatszentralistischen Modell Chinas einen dritten Weg darstellen kann [4], [14].

Anwendung und Beispiele

Aufgrund des sehr breiten und oft divergenten Verständnisses des Begriffs findet es in sehr unterschiedlichen Bereichen Anwendung und wird mit sehr verschiedenen politischen Maßnahmen verknüpft. Zur besseren Strukturierung lassen sich in Deutschland und Europa drei Dimensionen von digitaler Souveränität unterscheiden, basierend auf den Akteurinnen/Akteuren bzw. Sektoren, deren Autonomie gestärkt werden soll. Alle drei Dimensionen überlappen sich in vielerlei Hinsicht, sodass eine scharfe Abgrenzung nicht immer möglich ist.

(1) Die staatliche Dimension zielt auf die Stärkung der IT- und Datensicherheit des Staates und staatlicher Einrichtungen sowie die technologische Unabhängigkeit der Verwaltung ab. Sie umfasst daher hauptsächlich sicherheits- und innenpolitische Maßnahmen zur Kontrolle und Unabhängigkeit technologischer Infrastrukturen, die Entwicklung strategischer Cybersicherheitstechnologien und die Reduktion von Abhängigkeiten durch offene Standards und Schnittstellen [15], [16], [17].

(2) Die wirtschaftliche Dimension ist darauf ausgerichtet, die Wettbewerbsfähigkeit und Unabhängigkeit des Wirtschafts- und Technologiestandorts Europa bzw. des digitalen Binnenmarkts zu fördern. Im Vordergrund stehen hier die Förderung von Schlüsseltechnologien, wie künstliche Intelligenz, Big Data und Cloud Computing, aber auch die Regulierung der globalen Plattformökonomie. Einschlägige Beispiele für konkrete Maßnahmen in diesem Bereich sind Initiativen wie Gaia-X als europäische Cloud-Plattform sowie das EU-Gesetz über digitale Märkte [18], [19].

(3) Mit Blick auf die individuelle Dimension der digitalen Souveränität geht es primär darum, allen Menschen die selbstbestimmte Nutzung digitaler Technologien zu ermöglichen. So stehen hier vor allem die Stärkung von allgemeiner Digitalkompetenz sowie der Schutz von Verbraucher- und Bürgerrechten und der Datenschutz im Vordergrund. Dazu zählt auch die Regulierung von digitalen Diensten, insbesondere durch die der großen Plattformunternehmen, beispielsweise im Rahmen des EU-Gesetzes über digitale Dienste [4], [20].

Kritik und Probleme

Trotz der breiten Akzeptanz der Idee von digitaler Souveränität gibt es diverse Kritikpunkte. Zum einen wird der Begriff aufgrund des mangelnden gemeinsamen Verständnisses zu einer Projektionsfläche für Anliegen und Vorstellungen, die häufig rein aspirativ und in ihrer Gesamtheit nur schwer umsetzbar sind. Digitale Souveränität erscheint damit nicht als erreichbares politisches Ziel, sondern vielmehr als die politische Verheißung, Kontrolle und Handlungsfähigkeit auch in Zeiten der globalen digitalen Vernetzung und von Big Tech zu bewahren. Zweitens führt die breite Begriffsauslegung zu etlichen Zielkonflikten zwischen den mit digitaler Souveränität verbundenen Forderungen. Insbesondere Maßnahmen zur Stärkung der staatlichen Dimension von digitaler Souveränität, wie beispielsweise eine stärkere Kontrolle von digitalen Datenflüssen, können die individuelle Selbstbestimmungsfähigkeit der Nutzerinnen und Nutzer digitaler Dienste noch weiter einschränken, statt sie zu fördern. Drittens lässt sich die normative Aufladung kritisieren, die die Idee der digitalem Souveränität insbesondere auf der EU-Ebene in den letzten Jahren erfahren hat. So wird das Erlangen von digitaler Souveränität in der EU zunehmend gleichgesetzt mit einer menschenzentrierten digitalen Transformation, die auf europäischen und demokratischen Werten beruht [21], [6]. Eine solche Umdeutung verschleiert jedoch, dass auch in der EU die mit dem Begriff verbundene Politik nicht auf eine Gemeinwohlorientierung und Demokratisierung der digitalen Transformation, sondern vielmehr auf staatliche Kontrolle und Regulierung ausgerichtet und von geopolitischen und geoökonomischen Interessen geleitet ist [22].

Forschung

Die Forschung zu digitaler Souveränität deckt ein zunehmend breites Spektrum an Themen ab – von sicherheits- und geopolitischen Aspekten [23] über ökonomische und technologische Herausforderungen [24] bis hin zu ethischen und rechtlichen Implikationen [25]. Während einige Studien den Fokus auf europäische Perspektiven und Politiken legen [21], [26], [27], beleuchten andere die globalen und regionalen Unterschiede und die damit verbundenen Herausforderungen [28], [29], [30]. Viele Forschende befassen sich außerdem mit der Mehrdeutigkeit und den theoretischen Grundlagen des Konzepts [5]. Welche politischen Implikationen die unterschiedlichen Bedeutungen haben und wie sie sich auf globale Machtstrukturen auswirken, ist dabei eine zentrale Frage [14]. Des Weiteren nimmt die Forschung zu, die die Anwendung des Konzepts in unterschiedlichen Ländern bzw. international vergleichend untersucht, wie zum Beispiel in den BRICS-Staaten [9], [29] oder auf dem afrikanischen Kontinent [10], [31]. Auch alternative Interpretationen durch nicht staatliche Akteure und indigene Gruppen finden zunehmend Beachtung [32]. Im Fokus kritischer Forschung stehen darüber hinaus die Sicherheitsversprechen von digitaler Souveränität im Zusammenhang mit dem Einsatz neuer Technologien [33],[34].

Quellen

[1] ZVEI (2020). Discussion Paper. Technological Sovereignty, Industrial Resilience and European Competences. German Electrical and Electronic Manufacturers’ Association. [01.07.2024].

[2] Digitale Zivilgesellschaft (2021). Vier Forderungen für eine digital-souveräne Gesellschaft. [01.07.2024].

[3] Bundesregierung. Digitalstrategie der Bundesregierung – Vernetzte und digital souveräne Gesellschaft. [01.07.2024].

[4] Pohle, J. (2020) Digitale Souveränität: Ein neues digitalpolitisches Schlüsselkonzept in Deutschland und Europa. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. [01.07.2024].

[5] Pohle, J./Thiel, T. (2020). Digital Sovereignty. In: Internet Policy Review 9 (4), 1–19.

[6] Barlow, J. P. (1996). A Declaration of the Independence of Cyberspace. Electronic Frontier Foundation.

[7] Creemers, R. (2016). The Chinese cyber-sovereignty agenda. In: Leonard, M. (Hg.). Connectivity Wars: Why migration, finance and trade are the geo-economic battlegrounds of the future, 120–125. European Council on Foreign Relations.

[8] Budnitsky, S./Jia, L. (2018). Branding Internet sovereignty: Digital media and the Chinese-Russian cyberalliance. In: European Journal of Cultural Studies 21 (5), Art. 5, 599 ff.).

[9] Belli, L. (2021). BRICS Countries to Build Digital Sovereignty. In: Belli, L. (Hg.). CyberBRICS: Cybersecurity Regulations in the BRICS Countries, 271–280. Springer International Publishing.

[10] Gagliardone, I. (2023). A Postcolonial Perspective on Digital Sovereignty. In: Feldstein, S. New Digital Dilemmas: Resisting Autocrats, Navigating Geopolitics, Confronting Platforms, 23–26.

[11] Bundesregierung. (2020). Gemeinsam. Europa wieder stark machen.Programm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. https://www.eu2020.de/eu2020-de/ programm [16.06.2024].

[12] Europäisches Parlament (2020). Digital sovereignty for Europe. EPRS Ideas Paper. [03.07.2024].

[13] von der Leyen, U. (2020). State of the Union 2020. European Commission. [11.09.2024]

[14] Broeders, D./Cristiano, F./Kaminska, M. (2023). In Search of Digital Sovereignty and Strategic Autonomy: Normative Power Europe to the Test of Its Geopolitical Ambitions. In:  Journal of Common Market Studies 61 (5), 1261–1280.

[15] Boeck, M. (2018). Technologiesouveränität erlangen – die neue Cyberagentur. Bundesministerium der Verteidigung. [07.07.2024].

[16] BMI (2019). BMI intensiviert Aktivitäten zur Stärkung der digitalen Souveränität in der öffentlichen Verwaltung. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat. [10.07.2024].

[17] Bundesregierung (2022). Eckpunktepapier Digitalpolitik der Bundesregierung: Neuordnung digitalpolitischer Zuständigkeiten. Bundesregierung.de [10.07.2024].

[18] Bundesregierung (2022). Digitalstrategie der Bundesregierung: Innovative Wirtschaft, Arbeitswelt, Wissenschaft und Forschung. [10.07.2024].

[19] Hartmann, E. A. (2021). Digitale Souveränität in der Wirtschaft – Gegenstandsbereiche, Konzepte und Merkmale. In: Hartmann, E. A. (Hg.). Digitalisierung souverän gestalten. Berlin/Heidelberg.

[20] Europäische Kommission (o. J.). Das EU-Gesetz über digitale Dienste. [02.07.2024].

[21] Falkner, G. et al. (2024). Digital sovereignty – Rhetoric and reality. In: Journal of European Public Policy, 1–22.

[22] Monsees, L./Lambach, D. (2022). Digital sovereignty, geopolitical imaginaries, and the reproduction of European identity. In: European Security 31 (3), 377–394.

[23] Adler-Nissen, R./Eggeling, K. (2023). The Discursive Struggle for Digital Sovereignty: Security, Economy, Rights and the Cloud Project Gaia-X. JCMS Journal of Common Market Studies.

[24] Lambach, D./Monsees, L. (2024). Beyond sovereignty as authority: The multiplicity of European approaches to digital sovereignty. In: Global Political Economy 1(aop), 1–18.

[25] Viganò, E. (Hg.) (2022). Big Data and Digital Sovereignty. In: Ethical, Legal and Social Issues of Big Data: A Comprehensive Overview. Bern: ELSI Task Force for the National Research Programme 75 „Big Data“, 27–30.

[26] Carver, J. (2024). More bark than bite? European digital sovereignty discourse and changes to the European Union’s external relations policy. In: Journal of European Public Policy 31 (8), 2250–2286.

[27] Flonk, D./Jachtenfuchs, M./Obendiek, A. (2024). Controlling internet content in the EU: Towards digital sovereignty. In: Journal of European Public Policy 31 (8), 1–27.

[28] Budnitsky, S. (2022). A Relational Approach to Digital Sovereignty: E-Estonia Between Russia and the West. In: International Journal of Communication, 16, Article 0.

[29] Prasad, R. (2022). People as data, data as oil: The digital sovereignty of the Indian state. In: Information, Communication & Society 25 (6), 801–815. https://doi.org/10.1080/1369118X.2022.2056498

[30] Fischer, D. (2022). The digital sovereignty trick: Why the sovereignty discourse fails to address the structural dependencies of digital capitalism in the global south. In: Zeitschrift Für Politikwissenschaft.

[31] Basu, A. (2023). Defending the „S Word“: The Language of Digital Sovereignty Can be a Tool of Empowerment. In: Feldstein, S. (Hg.). New Digital Dilemmas: Resisting Autocrats, Navigating Geopolitics, Confronting Platforms, 19–22.

[32] Noone, G. (2022, April 28). How New Zealand’s Māori people are fighting for their data sovereignty.

[33] Calderaro, A./Blumfelde, S. (2022). Artificial intelligence and EU security: The false promise of digital sovereignty. In: European Security 31 (3), 415–434. https://doi.org/10.1080/09662839.2022.2101885

[34] Leese, M. (2023). Staying in control of technology: Predictive policing, democracy, and digital sovereignty. In: Democratization 31 (5), 1–16.