Professor Carsten Reinemann vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU ist Sprecher des Projekts „Messung von Meinungsmacht und Vielfalt im Internet: Pilotprojekt zur publizistischen Konzentrationskontrolle“ am bidt. Im Interview spricht Carsten Reinemann über neue Kanäle und Akteure im digitalen Zeitalter und die alltägliche Überforderung von Nutzerinnen und Nutzern. Das Gespräch ist der Auftakt einer Reihe, in der die Forschungsthemen am bidt vorgestellt werden.
Wie steht es um die Meinungsvielfalt im Internet? Wer hat Meinungsmacht?
Wir kommen aus einer Zeit, in der die klassischen Medien die meinungsbildenden Akteure waren. Sie haben bestimmt, worüber diskutiert wurde und welche Fakten in der öffentlichen Debatte eine Rolle spielten. Diese relativ überschaubare Situation hat sich mit dem Aufkommen des Internets und von Suchmaschinen wie Google, die eine sehr starke Marktposition haben, verändert und dann noch einmal geradezu explosionsartig mit Social Media. Es gibt heute eine Vielzahl an kleinen und großen Akteuren im Netz, die das alte Monopol der klassischen Medien zumindest infrage stellen.
Einerseits zeigen Daten und viele Einzelstudien zwar, dass die meisten ihre Nachrichten immer noch über die traditionellen Medien beziehen und es eine relativ große Übereinstimmung gibt zu denen, die sich online informieren – etwa, wenn man nach der Relevanz bestimmter Themen fragt. Es gibt allerdings Hinweise, wie meine Kollegin Birgit Stark zeigen konnte, die ja auch im Projekt beteiligt ist, dass sich die beiden Gruppen darin unterscheiden, wie sie das Meinungsklima zu bestimmten Themen wahrnehmen. Das könnte darauf hindeuten, dass tatsächlich unterschiedliche Realitätsbilder erzeugt werden. Was zum Beispiel dazu beitragen kann, dass man sich selbst in der Mehrheit fühlt, obwohl man es womöglich gar nicht ist. Zudem ändert sich das Nutzungsverhalten gerade bei der jungen Zielgruppe extrem.
Kinder wachsen heute mit einem eigenen Zugang zu Informationen auf, den es früher nicht gab. Sie sind für viele neue Akteure zu einer Zielgruppe geworden.
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Was bedeutet das?
Die Mediensozialisation ist heute eine vollkommen andere. Die Kinder wachsen mit You Tube-Kanälen und Videos auf Plattformen wie TikTok auf und haben damit einen eigenen Zugang zu Informationen, den es früher nicht gab. Sie sind dadurch für viele neue Akteure zu einer Zielgruppe geworden. Das bedingt gewisse Gefahren. Ein Beispiel dafür ist das kürzlich veröffentlichte Video, in dem eine Influencerin versuchte, den Konflikt zwischen den USA und Iran zu erklären, und dabei von einem Dritten Weltkrieg sprach. So manche der Kinder, die das sahen, waren offenbar ziemlich verunsichert und hatten Angst, dieser würde nun ausbrechen.
Es gibt viele neue Kanäle, die in der Gesamtbevölkerung vielleicht gar nicht so bekannt sind, die aber durch die neuen Vernetzungsstrukturen im Internet und auch dadurch, dass traditionelle Medien diese Inhalte aufgreifen, das Potenzial haben, Meinungen zu beeinflussen und auch unglaubliche Dynamiken auszulösen. Das war der Fall bei der Aufregung über das Lied mit dem Wort „Umweltsau“, die dem WDR vermutlich ziemlich geschadet hat und die offenbar von einer gut koordinierten Social-Media-Kampagne befeuert wurde. Das gilt aber auch für die nun möglichen verdeckten Einmischungen ausländischer Akteure. Es gibt eine Menge Desinformation im Internet. Daher ist es wichtig, dass wir uns als Gesellschaft fragen: Was bedeutet das, was sich da gerade in unfassbarer Geschwindigkeit im Medienbereich verändert, für unsere Medienordnung, und wie wünschen wir uns, dass demokratische Meinungsbildung aussieht?
Unterliegen Nutzerinnen und Nutzer also schnell einem Trugschluss, wenn sie glauben, sich über digitale Medien objektiv zu informieren?
Es kommt auf die Quellen an, die sie nutzen: Man muss sich bewusst sein, wer hinter Nachrichten und Informationen steckt. Das gilt genauso bei Kommentaren: Sind sie urwüchsig oder Teil einer Kampagne, also gesteuert, oder handelt es sich am Ende um Fake-Accounts oder Bots?
Letztlich geht es um die Frage von gesellschaftlicher Integration und darum, Polarisierung zu verhindern.
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Das immer im Blick zu haben und richtig einzuschätzen setzt viel Wissen voraus.
Es ist in gewisser Weise eine Überforderung des Nutzers. Man kann auch von niemandem verlangen, dass er seine Medien zu jeder Zeit sehr reflektiert und quellenkritisch nutzt. Daher ist die Grundidee bei der Ausgestaltung der Rundfunkordnung, dass die Rahmenbedingungen für eine vielfältige öffentliche Meinungsbildung auf der Anbieterseite geschaffen werden müssen. Menschen sind eben so gestrickt, dass sie sich nicht unbedingt gern mit gegenteiligen Meinungen auseinandersetzen und keinen großen Aufwand betreiben wollen, um sich eine Meinung zu bilden. Die Idee, bestimmte Teile der Medienwelt so zu organisieren, dass auch innerhalb einzelner Angebote eine gewisse Vielfalt herrscht und man sich dort an gewisse Standards hält, ist nach wie vor sinnvoll.
Was passieren kann, wenn dies nicht der Fall ist, sieht man in den USA in den letzten 20, 30 Jahren, seit die sogenannte Fairness-Doktrin für Fernseh- und Rundfunkkanäle gefallen ist. Seither ist es möglich, extrem einseitig ausgerichtete politische Nachrichtensender zu schaffen. Das ist einer der Faktoren, die zu einer unglaublichen gesellschaftlichen Polarisierung in den USA geführt haben. Das zeigt auch, dass diese Fragen nicht nur das Internet angehen, sondern ein Thema der Medienordnung insgesamt sind. Ökonomisch betrachtet ist es unglaublich gewinnbringend, extrem einseitige Medienangebote zu machen, die eine spezifische politische Ausrichtung haben. Daher muss man im Blick haben, dass keine Meinungssilos entstehen. Letztlich geht es um die Frage von gesellschaftlicher Integration und darum, Polarisierung zu verhindern, die dadurch entsteht, dass sich bestimmte, über Onlinekanäle verbundene Gruppen vom Rest der Gesellschaft abkoppeln.
On- und offline, digitale und nicht digitale Welt lassen sich nicht mehr klar unterscheiden.
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Man hat den Eindruck, dass es immer neue Schlagworte gibt für das, was im Netz passiert: Hate-Speech, Fake-News, Deep-Fakes – was kommt wohl als Nächstes?
Diese Hypes sind ein klassisches Medienphänomen. Man muss auch aufpassen, manches nicht zu schnell zu übertragen, zum Beispiel von den USA nach Deutschland, da dort das Mediensystem komplett anders ist. Aber auch wir Wissenschaftler sind nicht davor gefeit, uns auf das Neue zu stürzen und darüber vielleicht zu vergessen, was eigentlich die Konstanz ist. Auf der anderen Seite bringen uns neue Entwicklungen im Zuge der Digitalisierung dazu, über die Frage neu nachzudenken, wie bislang Meinungsmacht im Rundfunk betrachtet wird. On- und offline, digitale und nicht digitale Welt lassen sich nicht mehr klar unterscheiden, das ist auch eine der Überlegungen unseres Projekts.
Was bedeutet die Geschwindigkeit, mit der sich digitale Medien entwickeln, für die Forschung?
Es gibt mehrere Dynamiken, die die Forschung betreffen. Eine dieser Dynamiken resultiert daraus, dass in schneller Abfolge immer wieder neue Angebote für neue Zielgruppen entstehen, die sich rasant ausbreiten. Eine andere ist, dass die Social-Media-Konzerne zuweilen ihre Algorithmen und Regeln ändern. Facebook zum Beispiel hat im Jahr 2017/18 den Algorithmus fundamental verändert, um weniger Inhalte von Medien und anderen Unternehmen in den Newsfeeds abzubilden. Das wirkt sich natürlich unmittelbar auf die Relevanz aus, die Facebook für die öffentliche Meinungsbildung hat, wenn das Private stärker in den Vordergrund rückt. Dazu kommt die Dynamik bei bestimmten Ereignissen, also die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der sich Informationen im Netz ausbreiten: Hier ist die Forschung darauf angewiesen, die Daten von Betreibern zu bekommen. Der Datenzugang ist natürlich essenziell, wenn man verstehen will, was da passiert.
Wie gehen Sie in dem Projekt am bidt vor?
Es sind drei Teilprojekte. Im ersten geht es darum, eine Art Landkarte zu erstellen von Onlineangeboten bis hin zu einzelnen Akteuren und Accounts auf Social Media, die in der politischen Diskussion relevant sind. Wir werden sie systematisieren, die Reichweite erfassen und sie inhaltlich untersuchen. Die Meinungsmacht eines Mediums hängt ja nicht allein von seiner Reichweite ab, sondern auch davon, wie vielfältig es ist oder ob offensiv bestimmte Positionen vertreten werden. Es geht darum, zu verstehen, wie viel an einseitiger und extremer Meinung es in den Onlinekanälen gibt.
Die Ergebnisse sollen sukzessive in die beiden anderen Projekte einfließen. Simon Hegelich wird mit neuesten Ansätzen der Datenanalyse und des Maschinellen Lernens die kommunikative Resonanz in Social Media abbilden: Wie verweisen bestimmte Akteure aufeinander und welche Rückschlüsse lassen sich daraus auf das Potenzial ziehen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen? Birgit Stark wird sich mit der Frage beschäftigen, wie vielfältig die politischen Informationen, Themen und Meinungen sind, die man auf Social Media bekommt. Da geht es im Kern um die Frage, ob man – verglichen mit einer traditionellen Mediennutzung – über Social Media ein ebenso breites Meinungsbild erhält. Eine Vielfalt von Quellen schützt ja nicht vor der Gleichförmigkeit von Inhalten.
Was sehen Sie als größte Herausforderung im Zuge der Digitalisierung von Medien?
Ich nenne Ihnen zwei: Die Balance zu finden, um einerseits die Freiheit zu gewährleisten, die es ermöglicht, die Potenziale der Digitalisierung zu nutzen, und auf der anderen Seite neue technologische Entwicklungen so zu regulieren, dass sie zum gesellschaftlichen Wohl beitragen.
Die zweite Herausforderung ist die digitale Bildung: unsere Schulen, die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler fit zu machen für die digitale Welt. Und da geht es nicht nur darum, wie man eine Webseite programmiert, sondern auch um das Verständnis von Information: Bin ich mir bewusst über die algorithmische Steuerung von Inhalten, über die psychologischen Tricks, die Apps anwenden, und darüber, dass ich mitunter mit Onlineakteuren konfrontiert bin, die nicht das Gemeinwohl im Blick haben, sondern andere Interessen verfolgen?