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Digitale Gemeinschaften

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Digitale Gemeinschaften sind eine neue Form sozialer Vergemeinschaftung, die durch die digitale Transformation und Mediatisierung sozialer Beziehungen entsteht [1], [8].

Im Gegensatz zu traditionellen Gemeinschaften, deren Existenz auf räumlicher Nähe und physischer Kopräsenz beruht, ermöglicht die digitale Transformation spätestens seit den 1990er-Jahren neue Formen der sozialen Interaktion, die medial vermittelt sind und als eine Form algorithmischer Sozialität bezeichnet werden können [12]. Diese basieren auf der durch algorithmische Systeme vermittelten Herstellung sozialer Bindungen im digitalen Raum. Digitale Gemeinschaften werden als soziale Aggregate verstanden, die durch mehr oder weniger wiederholte Kommunikation entstehen und soziale Beziehungen im digitalen Raum erzeugen [10]. Der Begriff der digitalen Gemeinschaft stellt somit einen Gegenbegriff zur fragmentierten digitalen Gesellschaft dar.

Die Verbindung von Virtualität und Gemeinschaftlichkeit stellt in diesem Zusammenhang eine analytische Herausforderung dar, da der Begriff der Gemeinschaft inhärent eine physische Kopräsenz voraussetzt. Virtuelle Gemeinschaften sind hingegen immer auch durch digitale Technologien vermittelte Weltgemeinschaften [1]. Ein weiterer Unterschied zu klassischen Gemeinschaftsformen, wie sie von Ferdinand Tönnies beschrieben wurden [13], ist die Freiwilligkeit und Flüchtigkeit virtueller Gemeinschaften, die oft als „dünne Gemeinschaften“ bezeichnet werden [2], [14]. Die fehlende physische Präsenz wird durch eine zeitliche Investition in die Gruppe kompensiert, die neue Formen des Zusammenlebens und der Anerkennung ermöglicht.

So können digitale Gemeinschaften ein Gegengewicht zum vermeintlichen Niedergang traditioneller Gemeinschaften darstellen, da sie eine längerfristige Beteiligung und niedrigere Eintrittsbarrieren bieten. Gleichzeitig entstehen algorithmisch kuratierte Gemeinschaften ohne direkte oder bewusste Beteiligung. Die Mechanismen der sozialen Ordnungsbildung und die damit verbundenen Sanktionsmöglichkeiten verändern sich. Insbesondere auf digitalen Plattformen lässt sich eine Form der algorithmischen Gouvernementalität beobachten, bei der die Nutzenden nicht mehr direkt als handelnde Subjekte angesprochen werden, sondern die Rahmenbedingungen ihrer Entscheidungen durch Algorithmen beeinflusst werden.

Vergleichbarkeit mit analogen Phänomenen

Sowohl traditionelle als auch digitale Gemeinschaften sind Formen sozialer Vergemeinschaftung. Häufig spiegeln digitale Gemeinschaften bereits bestehende analoge Gruppen (Familie, religiöse Gruppen etc.) wider. Solche Plattformintimitäten, wie sie durch geteilte emotionale Bindungen an kollektive Imaginationen entstehen, schaffen affektive Identifikationen [4]. Digitale Gemeinschaften treten in verschiedenen affektiven Schattierungen auf, z.B. als digitale „Positivkulturen“ [9], d.h., als das, was Tönnies als soziale „Verhältnisse gegenseitiger Bejahung“ [13, S. 124] beschrieben hat.

Ebenso wie für digitale Gesellschaften kann davon ausgegangen werden, dass digitale Gemeinschaften durch Fragmentierung und Heterogenität gekennzeichnet sind [6, S. 42]. Es lassen sich Gemeinschaftstypen unterscheiden, die von heterogenen Kollaborationen und individueller Selbstdarstellung in sozialen Medien bis zu ethischen Verbindungen in Post- oder Neo-Communities reichen [9].

Digitale Gemeinschaften weisen im Vergleich zu analogen Gemeinschaften aber auch einige spezifische Merkmale auf, die durch die technischen Möglichkeiten geprägt sind. Ein zentraler Unterschied ist die Dauerhaftigkeit digitaler Inhalte. Während physische Begegnungen und Gespräche vergänglich sind, können digitale Interaktionen dauerhaft dokumentiert und archiviert werden. Diese langfristige Verfügbarkeit ermöglicht somit nicht nur eine lückenlose Nachvollziehbarkeit von Interaktionen, sondern auch eine kontinuierliche Bezugnahme auf vergangene Ereignisse, die in analogen Gemeinschaften oft nicht in gleichem Maße zur Verfügung steht.

Hinzu kommt die ubiquitäre Verfügbarkeit digitaler Gemeinschaften. Da digitale Netzwerke und Plattformen weltweit zugänglich sind, können die Mitglieder von nahezu jedem Ort aus und zu jeder Zeit auf ihre Gemeinschaft zugreifen. Diese ubiquitäre Erreichbarkeit ermöglicht eine flexible und ortsunabhängige Teilnahme und damit eine deutlich höhere Interaktionsfrequenz und Mitgliederzahl.

Die vereinfachte Verschleierung in digitalen Räumen ermöglicht es ihren Nutzenden, sich mit Pseudonymen oder anonym zu bewegen, was digitale Gemeinschaften sowohl offen als auch ambivalent macht. In digital vermittelten Gemeinschaften ist es möglich, verschiedene Identitäten auszuprobieren oder sich anonym in der Gemeinschaft zu bewegen, was bestimmte Konfliktlinien und Dynamiken fördern kann, die in analogen Gemeinschaften weniger üblich sind.

Dem steht die potenzielle Möglichkeit der indirekten Identifizierung von Personen und Vorgängen in digitalen Gemeinschaften gegenüber, z.B. durch Algorithmen, die Nutzerprofile analysieren. Diese Erleichterung der Identifikation ermöglicht eine kontinuierliche Beobachtung der Aktivitäten der Mitglieder. Dies kann die Integrität der Gemeinschaft fördern, stellt aber auch eine Bedrohung der Privatsphäre dar, die in analogen Gemeinschaften nicht im gleichen Maße gegeben ist.

Gesellschaftliche Relevanz

Digitale Gemeinschaften ermöglichen demokratische und emanzipatorische Formen der Solidarität. Entgegen der Vorstellung eines Verlusts von Gemeinschaftlichkeit zugunsten abstrakter und formalisierter sozialer Beziehungen gehen in modernen Gesellschaften traditionelle Formen sozialer Beziehungen nicht verloren, vielmehr bilden sich neue Formen heraus, z.B. auf soziotechnischen bzw. algorithmisch vermittelten Beziehungen basierende Formen gemeinschaftlicher Netzwerke und Assoziationen.

Digitale Gemeinschaften bergen jedoch auch problematische Aspekte, da sie Räume für Normierung, Sanktionierung, Ausgrenzung und Gewalt bieten können – Themen, die bereits von Tönnies für klassische Gemeinschaftsformen thematisiert wurden. Als digitale Negativkulturen sind sie durch einen besonderen Grad an Kontroversität gekennzeichnet (Shit Storms, Hate Speech etc.). In dieser Form lassen sie sich auch als „reaktive Gemeinschaften“ [3, S. 30] beschreiben, deren strukturelle Konsistenz in erster Linie auf Abgrenzungen und Reaktionen auf Äußerungen anderer Gemeinschaften beruht [11].

Darüber hinaus ist auch auf die Vergemeinschaftung hinter dem Rücken der Mitglieder hinzuweisen. Algorithmen und Plattformen spielen eine entscheidende Rolle in der Hervorbringung digitaler Gemeinschaften, die die Entscheidungsprozesse der Nutzenden innerhalb dieser Gemeinschaften beeinflussen können. Darüber hinaus kann das Gefühl der Zugehörigkeit und Identifikation zu einem Mittel der Berechnung und Ausbeutung werden [5].

Quellen

  1. Brint, S. (2001). Gemeinschaft Revisited: A Critique and Reconstruction of the Community Concept. In: Sociological Theory 19 (1), 1–23. DOI:10.1111/0735-2751.00125.
  2. Delanty, G. (2010). Community. London/New York
  3. Deleuze, G. (1979). Nietzsche. Ein Lesebuch von Gilles Deleuze. Berlin.
  4. Döveling, K./Seyfert, R. (2023). Digitale Affektkulturen. Soziale Medien als affektive Intensitätsmedien. In: G.L. Schiewer G. L./Szczepaniak, J./Pociask, J. (Hg.). Emotionen – Medien – Diskurse: Interdisziplinäre Zugänge zur Emotionsforschung. Wiesbaden, 23–36. DOI: 10.13173/9783447120593.023.
  5. van Dyk, S./Haubner, T. (2021). Community-Kapitalismus. Hamburg.
  6. Hepp, A./Berg, M./Roitsch, C. (2022). Mediengeneration und Vergemeinschaftung: Digitale Medien und der Wandel unseres Gemeinschaftslebens. Wiesbaden.
  7. Knorr Cetina, K. (2007). Postsoziale Beziehungen: Theorie der Gesellschaft in einem postsozialen Kontext. In: Bonacker, T./Reckwitz, A. (Hg.). Kulturen der Moderne: Soziologische Perspektiven der Gegenwart. Frankfurt a. M., 267–300.
  8. Latour, B. (2006). Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie. In: Belliger, A./Krieger, D. J. (Hg.). ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld, 483–528.
  9. Reckwitz, A. (2017). Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin.
  10. Rheingold, H. (1993). The Virtual Community: Homesteading on the Electronic Frontier. Reading (Massachusetts).
  11. Robinson, S. (2022). Platform Multiverse: Discontent and Disconnection among Alt-Rights. In: Canadian Journal of Communication 47 (1), 197–218. DOI: 10.22230/cjc.2022v47n1a4157.
  12. Seyfert, R. (2023). Die Theorie algorithmischer Sozialität (TaS). Österreichische Zeitschrift für Soziologie 49 (6), 23–46. DOI: 10.1007/s11614-023-00535-1.
  13. Tönnies, F. (2019). Gemeinschaft und Gesellschaft. Bd. 2. Berlin/Boston.
  14. Turner, B. (2001). Outline of a General Theory of Cultural Citizenship. in: Stevenson, N. (Hg.). Culture and citizenship. London, 11–32. DOI: 10.4236/ce.2019.1012230.