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„Mit eXtended Reality ergeben sich in der Medizin völlig neue Therapieansätze“

Professorin Carolin Wienrich forscht an der Universität Würzburg im Rahmen des bidt-Projekts MOTIV zu Sprachassistenten wie Alexa, Siri & Co. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt im Bereich eXtended Reality. Im Interview beleuchtet sie die Einsatzmöglichkeiten von eXtended Reality in Verwaltung, Medizin und Justiz.

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Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Virtual und eXtended Reality – insbesondere in Bezug auf neue Technologien wie das Metaverse?

Carolin Wienrich: eXtended Reality ist eine Art Oberbegriff und schließt alle Formen der Virtualität – also Virtual Reality und Augmented Reality – ein. Virtuelle Realität ist daher eine Variante von eXtended Reality. Hier tauchen Nutzer:innen vollständig in eine virtuelle Welt ein, wir haben hier also kaum Vermischungen mit der realen physischen Welt. Das ist übrigens bei Augmented Reality der Fall und es kommt beispielsweise beim Metaverse zum Einsatz. Das Metaverse ist übrigens ein strategischer Begriff, der vom Unternehmen Meta beworben wird, um dieses Thema öffentlichkeitswirksam an sich zu binden. Hier liegt der Fokus vor allem auf virtuellen und vernetzten sozialen Interaktionen zwischen Menschen und ihren virtuellen Abbildern und zukünftig gegebenenfalls auch artifiziellen Gegenübern. Der Begriff Metaverse wurde allerdings bereits 1992 von Stephenson in seinem Buch „Snow Crash“ eingeführt.

Welche Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich aus eXtended Reality – beispielsweise in der Medizin?

Beispielsweise erstellen wir bereits heute mithilfe von eXtended Reality im medizinischen Bereich für die Therapie von Essstörungen fotorealistische, virtuelle Abbilder vom jeweiligen Körper der Patient:innen und können diese dann auf Knopfdruck dicker und dünner machen. Dadurch erhalten Menschen mit Adipositas beispielsweise eine Vorstellung davon, wie sie mit weniger Gewicht aussehen würden – auch kleine Veränderungen können so sichtbar gemacht werden. Es ist erwiesen, dass Patien:innen die Veränderungen am virtuellen Körper später auch auf ihr reales Körper- und Selbstbild übertragen – dadurch ergeben sich völlig neue und vielversprechende Therapieansätze.

Es ist erwiesen, dass Patient*innen die Veränderungen am virtuellen Körper später auch auf ihr reales Körper- und Selbstbild übertragen – dadurch ergeben sich völlig neue und vielversprechende Therapieansätze.

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Wie kann eXtended Reality in Verwaltung und Justiz eingesetzt werden?

Seitens der Forschung wissen wir, dass die Gestaltung der Interaktionsschnittstelle zwischen Mensch und KI – also quasi das äußere Erscheinungsbild der KI – einen enormen Einfluss auf Vertrauen, Akzeptanz und Nutzung hat. Wenn diese Systeme aber einmal produziert und eingeführt sind, kann man sie selten ändern. Mithilfe von eXtended Reality kann das System und die Interaktion sowie der Einsatzkontext simuliert und kostengünstig im Entwicklungsstadium verändert werden. Auch können auf diese Weise die späteren Anwender:innen wie Verwaltungsangestellte, aber auch Bürger:innen, an der Gestaltung beteiligt werden. Wir wissen, dass diese frühe Einbindung viele positive Effekte hat. In der Justiz, wo Objektivität, Fairness und Teilhabe zentral sind, kann der Einsatz von eXtended Reality eine echte Alternative sein: Diskriminierende Faktoren, die durch das äußere Erscheinungsbild von Personen entstehen, könnten dadurch verringert werden, indem jeder den gleichen Avatar bekommt – unabhängig vom Alter, dem Geschlecht oder der Ethnie.

Welche Fragestellungen wirft das für Ihre Forschung auf?

Gerade weil eXtended Reality so eindrucksvoll auf die menschliche Kognition oder Emotion wirkt, stellen sich vielfältige Forschungsfragen zu Potenzialen und Risiken. Besonders wichtig empfinde ich in diesem Zusammenhang die Frage, welchen Mehrwert eXtended Reality bietet und wie und warum sie genau beim Menschen wirkt. Nur weil etwas technisch möglich ist und gerade im Trend liegt, heißt es nicht, dass es auch sinnvoll wird. Die reine Eins-zu-eins-Kopie der Realität ist nicht die Stärke von eXtended Reality. Ihre Stärke liegt darin, dass wir dadurch „Unexperienced Experiences“ schaffen können – also gerade Dinge erproben und manipulieren können, die wir uns in der Realität nicht einmal vorstellen können.

Zudem werden leider viel zu selten konkrete Wirkmechanismen erforscht. Wenn man diese nicht kennt, dann ist die Gestaltung einer effektiven virtuellen Umgebung Glückssache – und das können wir uns bei dem Einsatz in wichtigen gesellschaftlichen Kontexten und sicherheitskritischen Systemen nicht erlauben.

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Und welche Lösungen könnten die Risiken minimieren?

Momentan werden die technischen Entwicklungen von großen Tech-Unternehmen vorangetrieben und damit die Bedingungen der Nutzung definiert. Stellen Sie sich vor, Sie agieren im Metaverse mit ihrem fotorealistischen Avatar und begegnen sich dann selbst nochmal und nochmal und nochmal. Ihr Avatar wurde kopiert oder gestohlen und eine andere Person bzw. ein intelligentes System kann sich nun sehr glaubwürdig als Sie ausgeben. Wie soll in dem Fall eine dritte Person wissen, welcher der Avatare korrekt ist? Wir machen uns am XR Hub an der Universität Würzburg über solche Fragen bereits jetzt Gedanken und entwickeln eine eXtended-Reality-Plattform nach deutschen und europäischen Regeln. So haben wir ein Sicherheitskonzept entwickelt, das auf individuellen Gangparametern basiert und wir so innerhalb von Sekunden erkennen, welcher Avatar der richtige ist, und wir können das dann in der virtuellen Interaktion für alle sichtbar machen.

Sie sprechen von der eXtended Reality als Schlüssel zur Mensch-KI-Interaktion, warum?

Weil die Mensch-KI-Interaktion nicht im luftleeren Raum passiert. Menschen haben Bilder – mentale Modelle – im Kopf, wenn sie an KI denken und diese Vorstellungen bestimmen massiv die Erwartungen und die Nutzung. Sie triggern aber auch Ängste oder Euphorie. Diese Bilder entstammen selten realistischen Interaktionen, sondern sind stark medial geprägt oder entstammen dystopischen oder utopischen Narrativen. Mit eXtended Reality können wir diese mentalen Modelle systematisch untersuchen, indem wir verschiedene Interaktionsschnittstellen und Mensch-KI-Interaktionen simulieren. Wir können untersuchen, wie sie wirken und auf Knopfdruck das KI-System, die Aufgabe oder den Kontext verändern. Nur wenn wir den Nutzungskontext frühzeitig berücksichtigen und wissen, mit welchen KI-Designs Menschen interagieren wollen, werden wir in Zukunft effektive und vertrauensvolle Mensch-KI-Interaktionen haben.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Nadine Hildebrandt.