| Aktuelles | Blog | Corona, die Digitalisierung und wir

Corona, die Digitalisierung und wir

Die Coronapandemie zeigt anschaulich, worauf es beim Weg in die digitale Gesellschaft ankommt: Entscheidend sind die Bedingungen, unter denen die Menschen die Möglichkeiten der Digitalisierung in ihrem Privat- und Berufsleben umsetzen können und müssen.


Aktuelle Studien legen den Eindruck nahe, dass sich in der Coronapandemie die Haltung der Menschen zur Digitalisierung verändert. Dies gaben zum Beispiel mehr als die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Befragung an, die der Verband Bitkom bereits im Sommer 2020 vorstellte. Demnach würde jeder Dritte der Digitalisierung nunmehr offener gegenüberstehen und nur jeder Fünfte kritischer als vor der Coronapandemie. Einen ähnlichen Eindruck vermitteln die erst kürzlich vorgestellten Ergebnisse der dritten Befragungswelle der „Vermächtnisstudie“ von WZB, ZEIT und infas. Angst und fehlende Motivation, die bisher vor allem in Deutschland das Verhältnis der Menschen zur Digitalisierung bestimmt hätten, würden weichen, weil die Pandemie Handlungsdruck erzeuge. Die verheißungsvolle Schlussfolgerung: „Modernisierungsblockaden wurden gelockert.“

Es sieht also ganz so aus, als würden die Einschränkungen, die die Menschen gegenwärtig in Kauf nehmen, zumindest in dieser Hinsicht neue Impulse setzen. Die Digitalisierung erfährt anscheinend mehr Zustimmung in der Bevölkerung. Oder trügt der Schein vielleicht?

Die Pandemie als Sneak Preview der digitalen Zukunft

Gewiss hat die Coronapandemie der Digitalisierung einen Schub verpasst. Unternehmen haben ihre Investitionen in die Digitalisierung erhöht. Selbst ältere Menschen nutzen digitale Dienste und Medien anscheinend in einem größeren Umfang als zuvor und empfinden die „digitale Welt“ als selbstverständlichen Bestandteil ihrer Lebensführung. Und die Verbreitung und Intensität der Nutzung von Homeoffice ist in der Arbeitswelt massiv angestiegen, wie etwa eine Befragung des bidt ergeben hat. Der Alltag in der Pandemie gibt damit unverhofft eine Vorschau darauf, wie sich die Gesellschaft im Zuge der digitalen Transformation weiter verändern wird. Aber was machen diese Erfahrungen mit den Menschen? Wie erleben sie die digitale Gesellschaft?

Die Potenziale der Digitalisierung offenbaren sich gegenwärtig wie unter einem Brennglas. Und zwar im Guten genauso wie im Schlechten. So eröffnet die Digitalisierung zwar neue Handlungsmöglichkeiten und erleichtert den Alltag in der Pandemie, etwa indem sich mit digitalen Kommunikationsmitteln die soziale Distanz bis zu einem gewissen Grad kompensieren lässt. Gleichzeitig dürften wohl insbesondere Ältere und Alleinstehende auf schmerzliche Weise erfahren, dass sich wirkliche Nähe auf Dauer nicht ersetzen lässt, weil die volle Sinnlichkeit menschlicher Erfahrung eben nicht über das Netz transportiert werden kann.

Seit Beginn der Pandemie wurde vermutlich nichts so stark beforscht, wie das Thema Homeoffice. Die Erkenntnisse darüber, wie diese Form mobilen Arbeitens erlebt wird, klaffen allerdings weit auseinander. Während die bereits erwähnte bidt-Befragung eine große Zufriedenheit und den Wunsch nach mehr Homeoffice auch für die Zeit nach der Pandemie konstatiert, weisen die Ergebnisse einer anderen Onlineumfrage insbesondere für Frauen, Selbstständige und Geringverdienende in die entgegengesetzte Richtung.

Die bidt-Studie #UmbruchErleben

Die Erfahrungen, die die Menschen im Zuge der Coronapandemie mit der Digitalisierung machen, sind also vermutlich weit vieldeutiger als gemeinhin angenommen. Das überrascht insofern nicht, als die Forschung auch schon vor der Pandemie kein einheitliches Bild davon zeichnen konnte, wie die Menschen die digitale Transformation erleben. Vor diesem Hintergrund wurde unser Forschungsprojekt #UmbruchErleben unter Leitung von bidt-Direktor Professor Andreas Boes am bidt initiiert.

Und zwar mit einer Besonderheit: Anders als die meisten anderen Studien folgt das Projekt konsequent einem qualitativen Forschungsansatz. Um besser zu verstehen, wie die Digitalisierung wahrgenommen wird, haben wir uns sehr ausführlich mit den Menschen selbst unterhalten. In Interviews mit einer jeweiligen Dauer von bis zu zweieinhalb Stunden konnten wir sehr tiefe Einblicke gewinnen, welche Veränderungen die Menschen mit der digitalen Transformation in ihrem Alltag verbinden und wie sie diese subjektiv erleben und verarbeiten. Insgesamt haben meine Kollegen Elisabeth Vogl, Alexander Ziegler und ich 35 solcher einzelfallbezogenen Tiefenanalysen durchgeführt – und zwar quer durch sämtliche soziale Lebenslagen, Berufsfelder und Positionen.

Eine wichtige, so gewonnene Erkenntnis ist, dass die Menschen die digitale Transformation schon vor der Coronapandemie als einen tief greifenden sozialen und gesellschaftlichen Wandel erfahren haben. Das bedeutet, dass sie mit der Digitalisierung mehr verbinden als den Einsatz und die Akzeptanz von neuer Technik, die es ermöglicht, jederzeit und von nahezu jedem beliebigen Ort miteinander zu kommunizieren oder zu arbeiten. Sie erleben einen grundlegenden Umbruch, der das gesamte gesellschaftliche Leben durchdringt und „in alle Lebensbereiche eingreift“, wie es einer unserer Interviewpartner – der Leiter eines kleinstädtischen Forstamtes – auf den Punkt gebracht hat. Er verbindet damit einen Wertewandel in der Gesellschaft und Veränderungen im sozialen Miteinander der Menschen. Andere Gesprächspartner wiederum beziehen sich auf einen Strukturwandel, etwa in Wirtschaft und Arbeitswelt, und vergleichen die Tragweite des Umbruchs mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert.

Die subjektiven Wahrnehmungen und Bewertungen dieses Umbruchs gehen sehr weit auseinander. Während er von den einen als eine Bedrohung erfahren wird sowie als Abkehr von einer alten Welt, in der der Mensch im Mittelpunkt stand, erleben andere richtiggehend einen Aufbruch im Zuge der Überwindung überkommener Verhältnisse, indem etwa in den Unternehmen „alte Strukturen aufgebrochen werden“, sodass ein Zugewinn an Freiheit entstehe.

Wie leben die Menschen den Umbruch?

Der Umbruch wird also sehr unterschiedlich und mit teils entgegengesetzten Vorzeichen wahrgenommen. „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst“, schrieben Marx und Engels – heute poetisch anmutend – mit Blick auf die permanente Umwälzung der Lebensbedingungen zu ihrer Zeit. Was Marx und Engels mit Bezug auf die beginnende Industrialisierung analysierten, gilt auch für die digitale Transformation: Die Menschen müssen sich immer wieder von Neuem mit den Bedingungen ihrer Existenz arrangieren. Im Rahmen unserer Studie haben wir in den Interviews untersucht, wie unsere Gesprächspartnerinnen und -partner mit dem Umbruch umgehen und nach einem Weg suchen, mit veränderten Anforderungen zurechtzukommen. Eine Verweigerungshaltung haben wir so gut wie nie gefunden – dafür aber sehr unterschiedliche Bedingungen, unter denen die Menschen den Umbruch in ihrem Alltag zu bewältigen haben.

Da ist zum Beispiel die Angestellte im Callcenter, die sich angesichts zunehmender Automatisierung in ihrem Tätigkeitsbereich auf eigene Faust in ihrer Freizeit weiterbildet. Und zwar aus der Angst heraus, andernfalls ihren Job zu verlieren. Oder der Journalist mit leitender Funktion in einem Kleinverlag, der die Anforderungen der Beschleunigung, steigender Arbeitslast und permanenter Verfügbarkeit nicht anders zu bewältigen weiß als durch eine massive Entgrenzung seiner Arbeit in den Freizeit- und Familienbereich hinein – und immer wieder Phasen durchlebt, die ihn an die Grenzen seiner Belastbarkeit führen.

Diese Menschen sind weder technikfeindlich noch fortschrittsskeptisch. Im Gegenteil: Sie stechen meist sogar durch eine hochgradig digitalisierte Lebensführung hervor. Denn nur so schaffen sie es, die nötige Effizienz zu erreichen, um sich mit den veränderten Anforderungen zu arrangieren. Aber der Aussicht auf eine Zukunft in der digitalen Gesellschaft begegnen sie dennoch mit gemischten Gefühlen, „weil im Arbeitsleben muss ich um meinen Arbeitsplatz fürchten. Da nimmt mir die Maschine etwas weg. Und im Privatleben gibt sie mir etwas … mehr Zeit, mehr Flexibilität“, konstatiert etwa die Callcenter-Angestellte. Als „Fluch und Segen zugleich“ bezeichnet eine von uns befragte Wirtschaftsprüferin die technischen Möglichkeiten zur örtlichen und räumlichen Flexibilisierung von Arbeit.

Ringen um Zukunft

Vor dieser Vielgestaltigkeit der Umbruchserfahrungen und den Widersprüchen, die die Menschen im Zuge ihrer Bewältigungsversuche kompensieren müssen, dürfen wir als Gesellschaft unsere Augen nicht verschließen, wenn wir verstehen wollen, wie die Menschen den digitalen Umbruch wirklich erleben. Wir fassen daher in unserer Studie die Art und Weise, wie die Menschen die Digitalisierung erleben und bewältigen, als ein Ringen auf – und meinen damit ein Ringen um Zukunft, ein Ringen mit den veränderten Bedingungen und Anforderungen. Und das ist im Kern: ein Ringen um Handlungsfähigkeit.

Die Menschen sind darauf aus, die Handlungsmöglichkeiten, die ihnen die Digitalisierung eröffnet, so zu verwenden, dass sie ihr Leben und die Bewältigung ihres Alltags erleichtern, vielleicht sogar bereichern, aber zumindest nicht erschweren. Inwiefern das gelingt, hängt nicht allein von der Technik oder von den Menschen selbst ab – von ihrer Affinität zur Technik etwa, ihrer formalen Bildung, dem Alter oder Geschlecht und auch nicht von der Höhe ihres Einkommens –, sondern in erster Linie von den jeweiligen Bedingungen, unter denen sie sich mit der Digitalisierung arrangieren müssen.

Anders als es bisherige Untersuchungen vermuten lassen, zeigen unsere Forschungsergebnisse, dass es nicht allein die jungen und meist männlichen, besserverdienenden Hochqualifizierten in den Büros der Großstadt sind – die im Digital-Index der Initiative D21 den Kern der sogenannten „digitalen VorreiterInnen“ darstellen –, die den Umbruch positiv erleben. Denn: Eine Befreiung von überkommenen, eingerosteten Verhältnissen erfährt auch der von uns interviewte angelernte Maschinenbediener im Labor, der den Einsatz von Automatisierungstechnik nicht unter Bedingungen erlebt, die ihn um seinen Arbeitsplatz fürchten lassen, sondern die in erster Linie eine massive Reduzierung seiner körperlichen Belastung in der Arbeit erlauben. Ein anderes Beispiel aus unserem Sample ist die 50-jährige Montiererin, die ihr halbes Leben in der Fabrik gearbeitet hat und der nun im Zuge des Umbruchs noch einmal die Türen zur Bürowelt der Angestellten aufgestoßen werden.

Mehr geben als nehmen – Digitalisierung for Future

Bei diesen Menschen bestimmt sich ihr Verhältnis zur Digitalisierung maßgeblich nicht durch den Umfang des Gebrauchs oder ihre Akzeptanz digitaler Technik. Es ist vielmehr durch die Bedingungen bestimmt, die ein positives Erleben des Umbruchs ermöglichen – und die Lust machen auf eine Zukunft in der digitalen Gesellschaft.

Genau diese Erkenntnis sollten wir in Anschlag bringen, wenn zum Jahresende resümiert wird, wie sich im Alltag der Coronapandemie das Verhältnis zur Digitalisierung verändert. Wenn die Pandemie uns nun bloß mehr Digitalisierung beschert, ist das noch lange kein Garant für eine erfolgreiche Bewältigung des Umbruchs. Zwar wurde insbesondere während der sogenannten ersten Welle der Pandemie mehr als vorher das Potenzial einer anderen Digitalisierung deutlich – einer Digitalisierung nämlich, die den Menschen nicht nur, wie bisher, als „Tsunami auf dem Arbeitsmarkt“ oder als „Überwachungskapitalismus“ entgegentritt, sondern vielen auch in Krisenzeiten die Aufrechterhaltung elementarer Bestandteile des Alltags, wie nicht zuletzt der Erwerbsarbeit, ermöglicht. Solange sie den Menschen aber als ein äußerer Zwang begegnet, der bloß den Handlungsdruck erhöht, wird sie ihr ganzes Potenzial als eine „Digitalisierung for Future“, die den Menschen „mehr geben als nehmen“ kann, nicht verwirklichen können. So verwundert es auch nicht, wenn nach einer gewissen Anfangseuphorie etwa das Homeoffice, sofern es unter widrigen Bedingungen realisiert wird, bald nur noch als schlechte Alternative erscheint – statt als eine zusätzliche Option, die die Handlungsmöglichkeiten der Beschäftigten im Büro erweitert und nicht einschränkt. Wenn dann zusätzlich auch digitale Tools zur Mitarbeiterüberwachung allmählich an Bedeutung gewinnen, wird das die Aussicht auf eine erfolgreiche Bewältigung der digitalen Transformation ebenfalls nicht verbessern.

Nein, ihre Bewährungsprobe hat die digitale Transformation noch nicht bestanden. Damit sie sich künftig bewähren kann, gilt es vor allem zu verstehen, dass die hartnäckigsten Blockaden gegen die Modernisierung nicht bei den Menschen selbst bestehen. Die zentrale Herausforderung ist es vielmehr, vor allem die nötigen Bedingungen dafür zu schaffen, dass möglichst viele Menschen ihr Ringen um Zukunft zum Erfolg führen können.

Die vom bidt veröffentlichten Blogbeiträge geben die Ansichten der Autorinnen und Autoren wieder; sie spiegeln nicht die Haltung des Instituts als Ganzes wider.