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Digitale Abstimmungsverfahren bei politischen Wahlen

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Bereits seit den 1990er-Jahren hat die Idee computergestützter Wahlen eine wichtige Rolle im Diskurs um den digitalen Wandel von Politik und Gesellschaft gespielt – ikonisch verdichtet im Zitat von Al Gore vom „neuen athenischen Zeitalter“. Ironischerweise musste der damalige US-Vizepräsident während seiner eigenen Präsidentschaftskampagne erfahren, dass der Technologieeinsatz bei Wahlen mit zahlreichen Problemen behaftet ist. Grund für die Nachzählung der Stimmen im berühmten „Florida Recount“ von 2000 waren defekte Wahlcomputer, die keine eindeutigen Markierungen auf den Stimmzetteln hinterlassen hatten. Dieses Desaster (das Gore am Ende wohl den Einzug in das Weiße Haus kostete) führte jedoch zum „Help America Vote Act“ (HAVA), einer groß angelegten Kampagne zur Modernisierung von Wahltechnologien in den USA. Ein Vierteljahrhundert später sind tatsächlich weitgehende Verbesserungen erfolgt – allerdings spielt dabei das Internet keine wesentliche Rolle, sondern die digitale Technologie ist in Form von Ballot Marking Devices (BMD) und Direct Recording Electronic Systems (DRES) in die Wahllokale eingezogen. Die meisten Stimmzettel werden in den USA per Hand markiert, entweder mit maschineller Unterstützung oder aber mit Stift und Papier. Dann jedoch werden die Stimmzettel in ein digitales Aufzeichnungs- und Zählsystem eingespeist, in der Regel durch Einscannen, um maschinell ausgezählt werden zu können. In vielen Fällen erhalten die Wählerinnen und Wähler während dieses Verfahrens eine Art „Quittung“, die die eigene Stimmabgabe nachvollziehbar macht und als Garantie für das Zählen der Stimme gilt. Dieser sogenannte Paper Trail soll verhindern, dass die Wahlcomputer von den Bürgerinnen und Bürgern als Black Box wahrgenommen werden – die „Papierspur“ des Stimmzettels sorgt für Transparenz und ermöglicht einen Einblick in die Arbeit der Wahlmaschine. Für dieses Verfahren hat sich der Begriff des Voter-verified Paper Audit Trail (VVPAT) etabliert, der aktuell nicht nur in den USA als Standard in der digital unterstützten Stimmabgabe gelten darf.

Auch in Indien, mit knapp einer Milliarde Wahlberechtigter größte Demokratie der Welt, vertraut man auf einen automatisierten Prozessablauf, der den Wählerinnen und Wählern zugleich die Kontrolle über die eigene Stimmabgabe ermöglicht. Hier erfolgt die Stimmabgabe jedoch über ein digitales Eingabegerät, der Stimmzettel wird ausgedruckt, der Wählerin/dem Wähler präsentiert und dann unmittelbar in eine Wahlurne weitergeleitet. Dadurch wird einerseits umgehend der maschinelle Auszählungsprozess ausgelöst, durch die „Papierstimme“ ist jedoch auch eine manuelle Nachzählung der abgegebenen Stimmen möglich. Auf diesen Schritt verzichtet wird dagegen in Brasilien – die Stimmabgabe erfolgt dort ebenfalls an nicht mit dem Internet verbundenen Wahlcomputern, einen Paper Trail gibt es jedoch nicht. Das Wahlverfahren ist seit Langem Gegenstand ausführlicher Beobachtung durch eigens dafür eingerichtete Institutionen wie den Obersten Wahlgerichtshof (Tribunal Superior Eleitoral). Die bisher durchgeführten Auditierungen sind zu dem Urteil gekommen, dass der Ausdruck von Papierstimmen nicht nötig ist, um die Sicherheit des Verfahrens und das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler zu stärken. Noch weiter integriert sind digitale Innovationen in den zentralen politischen Beteiligungsprozess in Estland – seit 2005 finden dort Wahlen via Internet statt, ein weltweites Novum. Aufgrund einer systematisch umgesetzten Verwaltungsmodernsierung konnten die Bürgerinnen und Bürger dort bei der Europawahl 2024 über einen Zeitraum von einer Woche ihre Stimme online abgeben und währenddessen gegebenenfalls auch ändern. Am letzten Tag der Stimmabgabe ist zudem das Abstimmen im Wahllokal möglich, ein dort abgegebenes Votum „überschreibt“ die bisher getätigte Onlinewahl. Auch in Estland sind starke Prüf- und Sicherungsverfahren im Umfeld der Wahlen etabliert worden, hier regelt das Staatliche Wahlbüro (Riigi valimisteenistus) als direkt dem Parlament angliederte Stabsstelle das konkrete Verfahren, während die Nationale Wahlkommission (Vabariigi Valimiskomisjon) die politische Aufsicht übernimmt. Eine starke institutionelle Einbettung innovativer, digital gestützter Abstimmungsverfahren kann somit als zentral für die erfolgreiche Modernisierung politischer Wahlen gelten – die Verfügbarkeit geeigneter technologischer Systeme allein reicht nicht aus, es braucht sowohl den politischen Willen wie auch eine funktionierende Governance. Idealerweise sind die zuständigen Organe mit ausreichenden Ressourcen zur kontinuierlichen Kontrolle und Weiterentwicklung der Systeme ausgestattet, um sowohl die Verfahrenssicherheit zu gewährleisten und auch die Akzeptanz in der Bevölkerung zu unterstützen.

In Deutschland hat der Einsatz computergestützter Wahlverfahren dagegen eine wechselvolle Geschichte. Bis zum sogenannten Wahlcomputer-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2009 kamen in einigen Wahlbezirken elektronische Wahlgeräte zum Einsatz, auf eine Datenübertragung via Internet wurde dabei stets verzichtet. Die damals verwendeten Geräte registrierten die Wählerstimmen ohne Papieraufzeichnung und führten zu einer großen öffentlichen Debatte, in deren Verlauf insbesondere der Chaos Computer Club auf die Fehleranfälligkeit und Intransparenz des Verfahrens hingewiesen hatte. Das Bundesverfassungsgericht legte fortan hohe Hürden für den Einsatz computergestützter Wahlgeräte an, was in der Praxis zu einer Reduzierung auf eine Stimmabgabe mit Papier und Stift geführt hat. Bis auf Weiteres scheint eine digitale Modernisierung von Wahlen in Deutschland ausgeschlossen, auch weil es keine starke Wahlbürokratie gibt: Auf Landesebene wird die Wahlleitung von ehrenamtlichen Akteuren ausgeübt, auf Bundesebene ist die Leiterin/der Leiter des Bundesamts für Statistik qua Amt zugleich Bundeswahlleiterin/-wahlleiter und mit rein organisatorischen Aufgaben ausgestattet. Allerdings haben technologische Möglichkeiten während der Coronapandemie im Umfeld von Abstimmungsprozessen einen erneuten Schub erhalten. Weitreichende Kontaktverbote hatten politische Versammlungen wie Parteitage erschwert oder vollständig in digitale Räume verlagert. Die Vorbereitung von Entscheidungen fand per Videokonferenz statt und nicht selten wurde die Beschlussfassung mit digitalen Abstimmungstools umgesetzt. Damit diese Onlineabstimmungen auch rechtlich bindend waren, wurden im Nachgang zu den Parteitagen jedoch Briefwahlen durchgeführt. Aktuell scheinen die größten Innovationspotenziale auf der kommunalen Ebene zu liegen – die allmähliche Digitalisierung der Verwaltung forciert den Einsatz von „Digitalen Ratssystemen“, die neben Aufgaben zur Dokumentenverwaltung zunehmend auch Funktionen zur Kommunikation und Entscheidungsfindung von Gemeinderäten enthalten. Da es sich hier im rechtlichen Sinne nicht um politische Wahlen handelt, sind von diesen Abstimmungsprozessen auf kommunaler Ebene am ehesten Impulse für eine digitale Modernisierung politischer Entscheidungsfindung zu erwarten.

Vergleichbarkeit mit analogen Phänomenen

Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass in Deutschland keinerlei Wahltechnologie zum Einsatz kommt – an diese Stelle muss das seit den 1950er-Jahren etablierte Briefwahlverfahren erwähnt werden. Auch wenn hier keine digitalen Systeme zur Stimmzettelmarkierung oder der Stimmauszählung eingesetzt werden, so lassen sich Vorbehalte und Probleme feststellen, die auch auf digitale Wahlverfahren zutreffen. So ist bei der Briefwahl durch die Auslagerung der Stimmabgabe aus dem Wahllokal das Wahlgeheimnis nicht mehr gewährleistet – ähnlich wie bei einer Onlineabstimmung. Zudem ist das Briefwahlverfahren intransparent, denn die Wählerinnen und Wähler erhalten keine Rückmeldung darüber, ob ihre Stimme auch gezählt wurde – anders als bei einem Paper Trail, das im Wahllokal maschinell hergestellt werden kann.

Seit drei Jahrzehnten sind zwei wesentliche Entwicklungspfade digitaler Abstimmungen zu erkennen: Zum einen verändert der Einsatz computergestützter Wahlgeräte den individuellen Wahlakt im Wahllokal. Durch eine Stimmabgabe am Gerät lassen sich Stimmzettel und Stimmabgabe besser anpassen (Codierung als Daten; erhöhte Veränderbarkeit), was sich besonders bei komplizierteren Stimmgebungsverfahren wie Kumulieren und Panaschieren bemerkbar macht. Darüber hinaus kann stärker auf individuelle Einschränkungen bei den Wählerinnen und Wählern reagiert werden (etwa durch größere Darstellung am Bildschirm oder die Möglichkeit zur Korrektur fehlerhafter Markierungen) (elektrische/optische Übertragung und Verarbeitung). Darüber hinaus lassen sich durch die elektronische Speicherung der Wählerstimmen auch die Auszählungsprozesse effizienter und schneller organisieren (Automatisierung; Geschwindigkeit). Den anderen Entwicklungspfad markiert die zusätzliche Digitalisierung der Stimmübertragung via Internet, die eine Stimmabgabe im Wahllokal ersetzen kann (ubiquitäre Verfügbarkeit). Dadurch entsteht für die Wählerinnen und Wähler eine noch größere Flexibilität bei der Wahlbeteiligung und verkoppelt insbesondere den digitalen Alltag jüngerer Menschen mit politischen Institutionen und Prozessen (Permanenz). Gleichwohl stellt diese Form der Wahlmodernisierung noch höhere Anforderungen an die Kontrolle und Absicherung von Stimmabgabe und -auszählung (vereinfachte Verschleierung).

Gesellschaftliche Relevanz

Die digitale Modernisierung politischer Wahlen hat eine hohe gesellschaftliche Relevanz, selbst wenn – zumindest in Deutschland – empirisch bislang nur wenige Beispiele dafür zu verzeichnen sind. Der internationale Vergleich zeigt jedoch, dass bevölkerungsreiche Demokratien wie Indien, Brasilien oder die USA in der Lage sind, digitale Systeme einzusetzen. Dabei unterstützen sie zugleich deren politisch-institutionelle Einbettung und tragen dazu bei, dass neue Governance-Modelle für die Organisation von Wahlen entstehen. Technologische Innovationstreiber wie Estland entwickeln darüber hinaus neue Lösungen, die den veränderten digitalen Alltag vieler Menschen reflektieren und auf diesem Weg die Bürgerinnen und Bürger in politische Prozesse zu involvieren suchen. Es ist davon auszugehen, dass bei einer kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung auch in Deutschland eine gesellschaftliche Debatte aufkommt, die den Einsatz moderner, zugänglicher, sicherer Abstimmungsmodalitäten als Chance für eine erhöhte politische Mobilisierung und Partizipation diskutiert.