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Rechtswissenschaften

Die Zukunft der Hochschulprüfungen: ChatGPT und die Ära der E-Prüfungen

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Elektronische Prüfungen (kurz E-Prüfungen, teils auch Onlineprüfungen) spielen im Bereich der Hochschulbildung seit Längerem eine wichtige Rolle. Hierbei unterscheidet man zwischen elektronischen Präsenzprüfungen, d. h. solchen, die an einem Computer jedoch weiterhin in Präsenz an den Hochschulen abgelegt werden, und elektronischen Fernprüfungen, bei denen sich die Prüfungsteilnehmenden an unterschiedlichen Orten (in der Regel außerhalb der Hochschule, z. B. in der eigenen Wohnung) befinden. Prüfungen können zudem synchron oder asynchron, beaufsichtigt oder unbeaufsichtigt stattfinden und in verschiedenen Formaten sowohl schriftlich, mündlich als auch praktisch durchgeführt werden. Unter dem Begriff der E-Prüfungen finden sich daher abhängig von Studiengang, Prüfungsfach und Gegebenheiten an der Hochschule eine Vielzahl von unterschiedlichen Prüfungen.

Während Fernhochschulen bereits früh digitale Prüfungsmöglichkeiten anboten, um ihren Studierenden das Ablegen von Prüfungen möglichst flexibel zu ermöglichen, setzten sich die meisten Hochschulen erst im Zuge der COVID-19-Pandemie intensiv mit den Chancen, aber ebenso Herausforderungen dieser Prüfungen auseinander. Aufgrund der damals geltenden Kontaktbeschränkungen, Hygienevorgaben sowie Reiseeinschränkungen mussten auch auf den reinen Präsenzbetrieb ausgelegte Hochschulen ab 2020 Alternativen vorhalten. Insbesondere die klassische Klausur (eine meist handschriftliche Prüfung, die beaufsichtigt und in einem festen Zeitfenster an den Hochschulen standfand) konnte oftmals nicht mehr in Präsenz angeboten werden. In vielen Bundesländern wurden daher Rechtsgrundlagen für E-Fernprüfungen geschaffen (in Bayern etwa die BayFEV), die es den Hochschulen ermöglichen, Klausuren auf Distanz – beaufsichtigt mittels Kamera und Mikrofon – durchzuführen. Nachdem hierbei die Verwendung eines Computers und des Internets (zur Beaufsichtigung sowie zur Übermittlung von Prüfungsangabe und Prüfungsleistung) als Voraussetzung und zugleich das Aufdecken von bestimmten Täuschungshandlungen (z. B. die Verwendung eines Spickzettels) erschwert ist, tragen E-Fernprüfungen zu einem Überdenken der aktuellen Prüfungskultur bei. Einerseits kann der Computer genutzt werden, um modernere, kompetenzorientiertere und auf den späteren Berufsalltag angepasste Prüfungen zu erstellen (etwa durch den Einsatz von Programmieraufgaben, interaktiven Umgebungen oder Videos), andererseits bietet sich die Möglichkeit, die Prüfung an sich inklusiver und damit chancengerechter zu gestalten. So kann ein individueller Nachteil bei elektronischen Prüfungen mitunter besser ausgeglichen werden, als dies bei handschriftlichen Prüfungen der Fall ist (z. B. durch individuelle Kontrasteinstellungen am Bildschirm oder eine Brailletastatur). Vielfach wird hier auch auf das insbesondere im angloamerikanischen Kulturkreis weit verbreitete Open-Book-Format zurückgegriffen, bei welchem die Studierenden während ihrer Klausur auf Lehrmaterialien und sonstige Hilfsmittel zugreifen können. Dadurch reduziert sich der Aufsichtsbedarf und somit die Notwendigkeit nach grundrechtsinvasiven technischen Aufsichtsmaßnahmen.

Die wesentlichen praktischen Herausforderungen liegen im Aufbau der Infrastruktur und der Schulung aller Beteiligten. Auf rechtlicher Seite sind komplexe Abwägungen zwischen Grundrechten unterschiedlicher Grundrechtsträger erforderlich. Neben dem Gebot der Chancengleichheit, dem Prüfungsanspruch der Studierenden, der Wissenschaftsfreiheit der Lehrenden und ggf. dem Schutz von Leben und Gesundheit müssen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie das sog. Computergrundrecht (Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme) beachtet werden. Letzteres gewährleistet einen Systemschutz der privat genutzten IT-Geräte vor staatlichen Zugriffen und setzt so z. B. der verpflichtenden Installation von Prüfungssoftware Grenzen. Halten sich die Studierenden während der videobeaufsichtigten Prüfung in ihren Wohnräumen auf, kann auch das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung betroffen sein.

Mit der Verfügbarkeit von ChatGPT im Herbst 2022 hat sich das Hochschulprüfungswesen weiter gewandelt. Inzwischen steht eine Vielzahl von KI-basierten Assistenten für jedermann zur Verfügung, die nicht nur Texte schreiben, sondern ebenso rechnen, programmieren oder Bilder und Videos auf einfachste Anweisungen hin generieren können. Im Zuge dieser Entwicklung wurde insbesondere der Wert von unbeaufsichtigten Prüfungsleistungen, wie Seminar- oder Abschlussarbeiten, diskutiert. Damit einher geht nicht nur die Frage, ob die Nutzung generativer KI erlaubt sein sollte, sondern es muss ebenso beleuchtet werden, welche Fertigkeiten durch eine solche Prüfungsleistung unter Beweis gestellt werden sollen, welche Maßstäbe hierfür gelten und wie überprüft werden kann, dass die Leistung im Wesentlichen von dem oder der Studierenden erbracht wurde.

Ein einheitlicher Umgang mit generativen KI-Systemen ist im Hochschulprüfungswesen bisher nicht erkennbar. Die ersten hierzu (allerdings im einstweiligen Rechtsschutz) ergangenen gerichtlichen Entscheidungen (VG München v. 28.11.2023 – M 3 E 23.4371 und vom 08.05.2024 – M 3 E 24.1136) zeigen, dass auch aufseiten der Justiz Probleme bestehen, dieses Phänomen mit den bekannten rechtlichen Maßstäben zu erfassen. Herausforderungen ergeben sich, gerade was die Eigenständigkeit einer Leistung angeht und welche Anforderungen die Hochschulen zu erfüllen haben, wenn sie beweisen möchten, dass eine Prüfungsleistung widerrechtlich (da in diesem Fall nicht zugelassen) durch oder mithilfe von (generativer) KI erstellt wurde. Kann ein KI-Einsatz nicht bzw. nicht rechtskonform, d. h. beispielsweise aufgrund einer entsprechenden Rechtsgrundlage zum Einsatz von sog. KI-Detektoren, nachgewiesen werden, lässt sich ein Verbot nicht durchsetzen und wäre letztlich willkürlich. Die Zukunft kann somit nicht in einem Verbot dieser Technologie liegen, sondern muss diese in das Prüfungswesen integrieren, beispielsweise in Form einer zulässigen Co-Kreation.

Die aktuellen und absehbaren Entwicklungen bei Hochschulprüfungen gehen zudem mit verschiedenen datenschutz- und prüfungsrechtlichen Herausforderungen einher. Zugleich bieten neue Technologien nicht nur die Möglichkeit, das Prüfungswesen auf die sich ändernden Anforderungen der Arbeitswelt anzupassen, sondern zwingen (wie im Fall von generativer KI) dazu, unsere bisherigen Prüfungsformate und den Wert von Prüfungen zu überdenken.

Vergleichbarkeit mit analogen Phänomenen

Parallelen können bis zu einem gewissen Grad zu bisherigen Hochschulprüfungen gezogen werden. In traditionellen (analogen) Open-Book-Klausuren können Studierende auf Lehrmaterialien zugreifen, um komplexe Probleme zu lösen, was eine praxisnahe und realitätsbezogene Prüfung ermöglicht. Dies kann im Rahmen elektronischer Fernprüfungen erweitert und ebenso kann die Nutzung von KI-Anwendungen zugelassen werden. Hierbei wird nicht nur auf Bücher, sondern auf intelligente Tools zugegriffen, was den Fokus noch stärker auf Problemlösung und kreative Ansätze legt (Erzeugung und Verarbeitung großer Datenmengen, Vernetzung und Datenintegration). Die Möglichkeiten, E-Prüfungen auszugestalten, sind gegenüber analogen Prüfungen deutlich vielfältiger, Aufgabenstellungen können leichter in Inhalt und Reihenfolge variiert sowie schneller angepasst werden (erhöhte Veränderbarkeit, hohe Geschwindigkeit).

Auch die Aufsicht im Rahmen von E-(Fern-)Prüfungen ist zunächst dem analogen Pendant nachempfunden. Aufsichts- und Kontrollmaßnahmen werden bei E-Prüfungen jedoch vielfach digital umgesetzt und zum Teil bereits durch sog. Proctoringsoftware übernommen, um sicherzustellen, dass die Prüfungsbedingungen fair und sicher sind (Automatisierung, vereinfachte Identifizierung). Während Präsenzprüfungen die physische Anwesenheit an einem zentralen Ort erfordern, bieten E-Prüfungen durch die Videoaufsicht (elektrische/optische Übertragung und Verarbeitung) hingegen eine größere Flexibilität, da sie ortsunabhängig durchgeführt werden können. Dies kann den Zugang zu Prüfungen erleichtern und den Bedürfnissen einer vielfältigen Studierendenschaft besser gerecht werden (ubiquitäre Verfügbarkeit). Weiter können die elektronisch bearbeiteten Prüfungsleistungen unmittelbar (und ggf. pseudonymisiert) an die Korrektorinnen bzw. Korrektoren übermittelt werden. Sind Bewertungen von mehreren Prüfenden einzuholen, so kann dies – anders als bei einer analogen Bearbeitung – zeitgleich erfolgen, sodass sich der Korrekturprozess effizienter gestalten lässt (verlustfreie Vervielfältigung, Vernetzung und Datenintegration).

Gleichwohl weisen E-Prüfungen und ebenso Prüfungen, die mithilfe von KI bearbeitet werden (können), entscheidende Unterschiede zu den bekannten analogen Prüfungen auf, die einer Übertragung sämtlicher (prüfungs-)rechtlicher Überlegungen entgegenstehen. So kommt es einerseits durch die notwendige Datenverarbeitung zu neuen und komplexeren Grundrechtskollisionen. Andererseits sinken die Einflussmöglichkeiten der Hochschulen auf die Prüfungen. Bestimmte Faktoren können nicht mehr einseitig von ihnen kontrolliert werden, u. a. können die Hochschulen bei E-Fernprüfungen keinen Einfluss auf die konkrete Prüfungsumgebung nehmen. Dies liegt vielmehr in der Eigenverantwortung der Prüfungsteilnehmenden. Auch die Handhabe der Hochschulen bezüglich eines möglichen KI-Einsatzes bei unbeaufsichtigten Prüfungen ist bisher begrenzt, es fehlt oftmals nicht nur an klaren Vorgaben darüber, was erlaubt und was verboten ist. Bislang ist ebenso unklar, ob und wie ein Verstoß gegen ein KI-Verbot nachgewiesen und durchgesetzt werden kann.

Gesellschaftliche Relevanz

Der Einzug digitaler Technologien im Prüfungswesen beschränkt sich nicht auf eine bloße Elektrifizierung der Prüfungen, sondern führt zu tiefgreifenden Veränderungen im Bildungs- und Hochschulsystem. Die aktuell verfügbaren KI-Anwendungen zeigen bereits die Grenzen der bisher bewährten Prüfungsformate auf und machen eine Neubetrachtung des Hochschulprüfungswesens erforderlich. So muss hinterfragt werden, welche Fertigkeiten und Kenntnisse in der Arbeitswelt relevant und gefordert sind und von den Hochschulen vermittelt werden müssen. Wie können und sollen Absolventinnen und Absolventen auf den Arbeitsmarkt der Zukunft vorbereitet werden, in dem digitale Technologien allgegenwärtig sind und der Einsatz von KI-gestützten Assistenten nicht nur möglich, sondern sogar gefordert ist? Welchen Wert hat ein von einem Menschen geschriebener Text im Vergleich zu einem rein KI-generierten Text oder zu einem, der aus der Co-Creation von Mensch und Maschine entsteht?

Hierbei führt die digitale Transformation auch zu gewissen Verschiebungen im Kompetenzgefüge zwischen Hochschulen und Studierenden. Konnten zuvor bei analogen Prüfungen die Rahmenbedingungen vollständig durch die Hochschulen determiniert werden, bedarf es im Digitalen zunehmend einer Kooperation. Diese Veränderungen bieten aber ebenso die Chance, den Herausforderungen mit Mut und Gestaltungswillen zu begegnen, Erfahrungswerte im Umgang mit den neuen Technologien zu sammeln und so das Prüfungswesen gemeinsam weiterzuentwickeln.

Weiterführende Links und Literatur

  • Bayerisches Kompetenzzentrum für Fernprüfungen.
  • Bayerisches Staatsinstitut für Hochschulplanung und Hochschulforschung, Evaluation der Bayerischen Fernprüfungserprobungsverordnung (BayFEV) – Abschlussbericht Juni 2024.
  • Braegelmann, T. (2024). Zuhilfenahme Künstlicher Intelligenz bei der Erstellung von Texten für die Universität. RDi, 188-192.
  • Heckmann, D./Rachut, S. (2024). Warum KI-Einsatz bei Klausuren erlaubt sein sollte. Deutschlandfunk Nova v. 21. Juni 2024
  • Heckmann, D./Rachut, S., (2024). Rechtssichere Hochschulprüfungen mit und trotz generativer KI. In: Ordnung der Wissenschaft 02, 85–100.
  • Heckmann, D./Rachut, S. (2023). E-Klausur und Elektronische Fernprüfung.
  • Rachut, S. (2024). Grundrechtsverwirklichung in digitalen Kontexten.
  • Rachut, S. (2024). Kein Zugang zum Masterstudium wegen Vorlage eines mittels KI erstellten Essays. Anmerkung zu VG München, B. v. 28.11.2023 – M 3 E 23.4371, NJW 2024, 1052–1057.
  • Rachut, S.(2023). E-Klausur und elektronische Fernprüfung: Technologischer Fortschritt und Prüfungskulturwandel im Spiegel des Rechts. Ein Werkstattbericht. In: OdW 02, 89–98.
  • Rachut, S. (2023). Exmatrikulation aufgrund schwerwiegender Täuschung im Rahmen einer elektronischen Fernprüfung – Anmerkung zu VG Berlin 12. Kammer, Urteil vom 06.02.2023 – 12 K 52/22, jurisPR-ITR 19/2023, Anm. 4.
  • Rachut, S. (2021). Hochschulprüfungen als Fernklausur. Anm. zu VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 11.05.2021 – 1 L124/21, COVuR 2021, 488–493.