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„Ein riesiges Experiment“

Das Sozialpunktesystem wirkt über China hinaus. Welche Daten gesammelt werden und was das System für deutsche Unternehmen und Institutionen wie die Weltbank bedeutet, wird im Projekt „Learning from the Frontrunner?“ des bidt untersucht.

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Prof. Dr. Eugénia da Conceição-Heldt und Dr. Omar Ramon Serrano Oswald von der Hochschule für Politik München/School of Governance (TUM), die Sinologin und Betriebswirtin Prof. Dr. Doris Fischer (Universität Würzburg) und der Informatiker Prof. Dr. Jens Großklags (TUM) forschen im Projekt „Vom ‚Vorreiter‘ lernen? Eine multidisziplinäre Analyse des chinesischen Sozialkreditsystems und seiner Auswirkungen auf Deutschland“. Im Interview sprechen sie über die Dimension des chinesischen Sozialkreditsystems und erläutern, warum seine Auswirkungen weit über China hinausreichen.

Seit Jahren arbeitet China daran, flächendeckend ein Sozialpunktesystem einzuführen, mit dem unter anderem Bürgerinnen und Bürger beobachtet, ihre Handlungen bewertet und diese Informationen auf einer Art Punktekonto gesammelt werden. Könnten Sie den Hintergrund kurz erläutern?

Doris Fischer: Die Idee ist in China ursprünglich entstanden, um die Kreditwürdigkeit von Bankkunden zu beurteilen. Die Umsetzung hat aber nicht so gut funktioniert. Die Regierung hat dann Lizenzen an Firmen vergeben, damit diese die Technologie neu entwickeln, war mit dem Ergebnis aber nicht zufrieden. Heute gibt es nun ein System mit den Daten der Regierung sowie den Versuch, dieses mit den Daten der Firmen zusammenzubringen und darüber verschiedene Arten von Bewertungen zu schaffen.

Die eine Säule ist, die Kreditwürdigkeit von Personen zu beurteilen. Dann gibt es den Versuch, Bürgerinnen und Bürger zu erziehen, indem man sie bewertet, sowie die Beamten zu beurteilen und darüber zu steuern. Dazu kommt noch die Bewertung von Unternehmen, auch mit Blick auf ihre Kreditsicherheit, wobei hier auch die Kreditwürdigkeit von Personen hineinspielt. Diese Überschneidungen sind einer der Aspekte in unserem Projekt, die uns interessieren.

Was wir hier sehen, ist ein Experiment, das in der Größenordnung einer Nation mit über einer Milliarde Einwohnern und Unternehmen durchgeführt wird. Egal, was das Ergebnis sein wird – das Experiment selbst ist von höchster wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. Von Woche zu Woche sehen viele dieser Systeme in Teilaspekten völlig anders aus. Ohne die Arbeit von Projekten wie unserem wäre dieser Datenschatz und das Wissen darüber verloren.

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Wie funktioniert so ein System technisch? Spielt dabei auch künstliche Intelligenz eine Rolle?

Jens Großklags: Das Sozialpunktesystem ist ein riesiges Experiment. Ein Teil unseres Projekts ist es, genau zu erfassen, welche verschiedenen Arten von Datensammlungen überhaupt schon bestehen, wie sie miteinander verbunden sind und inwieweit die zentralen Pläne der Regierung mit der Realität übereinstimmen. Technisch ist es eine monumentale Aufgabe, so viele verschiedene Daten aus unterschiedlichsten Quellen zusammenzutragen.

Das sind zum einen Verhaltensdaten über Individuen oder Personengruppen aus verschiedensten Situationen, sei es aus der Schule, dem Beruf oder Alltag. Und es sind ökonomische Daten von Unternehmen und Privatpersonen, aber auch Daten über die Arbeit von Gemeinden und Regionalregierungen.

Ein Kernpunkt des Sozialpunktesystems ist es ja, die Bewertung des Einzelnen oder des Unternehmens zu nutzen, um zu belohnen oder zu bestrafen. Dafür braucht man ein komplexes System technischer Verfahren, das diese Strafen oder Belohnungen automatisch verifizieren und verteilen kann.

Künstliche Intelligenz kann hierbei in der Zukunft schon eine Rolle spielen, sowohl bei der Sammlung als auch der Nutzung der Daten.

Es gibt also gar nicht das eine Sozialkreditsystem, sondern viele verschiedene Systeme, die unter diesem Mantel laufen?

Doris Fischer: Es gibt zwar die Idee, dass letztlich jeder verbunden mit seiner Sozialversicherungsnummer einen bestimmten Score hat, aber ob die Informationen dafür wirklich mal zentral zusammenfließen, das ist auch in China nicht so klar.

Wie kommen Sie an die Daten, um das Sozialkreditsystem zu erforschen?

Jens Großklags: Da das System auf der Idee beruht, dass gutes und schlechtes Verhalten an die Öffentlichkeit gebracht wird, können wir viele dieser Daten beobachten. Das ist fundamental anders als der Ansatz von Kreditbewertungsinstituten in westlichen Ländern, seien es nun die Schufa in Deutschland oder Institute in den USA.

Vieles von dem, was normalerweise hinter den Kulissen passieren würde, ist hier tatsächlich zugänglich.

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Sie untersuchen in dem Projekt auch Auswirkungen des Sozialkreditsystems auf internationaler Ebene. Welche könnten das sein?

Eugénia da Conceição-Heldt: Wir wissen aus unserer vorherigen Forschung, dass China versucht, die Spielregeln von globalen ökonomischen Institutionen wie Weltbank und IWF zu ändern.

Unter der Führung von China sind neue multilaterale Entwicklungsbanken entstanden, die New Development Bank und die Asian Infrastructure and Investment Bank. Die Regeln demokratischer Einflussnahme und die Accountability-Mechanismen, die es in der Weltbank gibt, sind in diesen neuen Banken nicht so stark ausgeprägt.

Die Frage ist, inwiefern China versucht, das Sozialpunktesystem als neues regulatorisches Modell zu exportieren, und wie die anderen Staaten darauf reagieren.

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Dies hängt mit allgemeinen systemischen Fragen der liberalen internationalen Ordnung zusammen, nämlich inwiefern Chinas ökonomischer, politischer und ideologischer Einfluss zu einer Diffusion von chinesischen Regeln und Normen beiträgt.

Studien über die „Chinese Belt and Road Initiative“, über das „Beijing Consensus“ in der Entwicklungspolitik sowie über die Auswirkungen der chinesischen Investitionen in Afrika zeigen, dass Chinas Einfluss in Global Governance nicht nur eine ökonomische Dimension hat, sondern auch zunehmend Regeln, Normen und Policy-Making international verändert.

Aus diesem Grund interessiert uns auch die Frage, inwiefern es Nachahmer gibt, das heißt, ob andere Staaten das chinesische Modell kopieren und ob die von der chinesischen Regierung gesammelten Daten über „gutes und schlechtes Verhalten“ von anderen Entitäten, also Staaten, internationalen Organisationen und NGOs, verwendet werden.

Omar Ramon Serrano Oswald: Eine Schwäche von China ist, dass es bislang Schwierigkeiten hat, seine eigenen Regulierungen umzusetzen. Das Sozialkreditsystem ist nun eine Methode, das zu ändern.

Es könnte ein ganz neues Modell von Regulierung auch auf internationaler Ebene sein. Die Regeln, die jetzt die Weltwirtschaft bestimmen, sind von Europäern und Amerikanern geschaffen.

Es ist durchaus möglich, dass das chinesische Modell für Schwellenländer interessant ist, die ähnliche Umsetzungsprobleme bei ihren eigenen Regulierungen haben.

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Dabei könnte es unterschiedliche Mechanismen geben. Die Verbreitung des Sozialkreditsystems könnte zum einen über den Markt funktionieren, wenn Firmen, die an der Entwicklung des Sozialpunktesystems beteiligt waren, nun anderswo Projekte machen. Das ist zum Beispiel bei der „Digital Silk Road“ der Fall, die Teil der milliardenschweren „Chinese Belt and Road Initiative“ ist, mit der China Handelsrouten in Asien und Europa erschließt.

Es ist aber auch möglich, dass das System von multilateralen Organisationen übernommen wird.

Eugénia da Conceição-Heldt: Die Weltbank hat bereits eines der wichtigsten chinesischen Unternehmen, die China Communications Construction Company, von ihren Entwicklungsprojekten ausgeschlossen – unter Befolgung ihrer eigenen Bewertungskriterien.

Die Frage ist, ob es zu einem Regelkonflikt kommen könnte, wenn zum Beispiel Firmen bei der Weltbank ausgeschlossen sind, die im SCS (Social Credit System) gut bewertet sind oder umgekehrt. Ferner ist auch die Frage, ob die Weltbank bei der Vergabe von Entwicklungsprojekten chinesische Bewertungen benutzt. Das wollen wir auch während des Projekts herausfinden.

Sie beschäftigen sich im Projekt auch mit den Auswirkungen des Sozialpunktesystems auf Unternehmen. Wie denken diese über das System?

Doris Fischer: Wir untersuchen in unserem Teilprojekt, ob die Unternehmen es selbst nutzen und inwieweit versucht wird, sie darüber zu steuern.

Internationale Firmen sehen das System nicht nur negativ.

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Für sie erweist sich nun als Vorteil, dass sie, was die Einhaltung von Regeln angeht, eher besser performen als chinesische Firmen.

Es gibt aber auch Unsicherheiten darüber, inwieweit individuelles Verhalten von Managern in die Bewertung einfließt. Das ist natürlich etwas, was uns in Deutschland sehr fremd ist.

Bayerische und deutsche Firmen, die in China präsent sind, sind bereits Teil dieser positiven und negativen Listen, der Red- und Blacklists, die China nun erstellt.

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Was bedeutet das System für die chinesischen Unternehmen?

Doris Fischer: Für mittelgroße Unternehmen, die bislang nur im chinesischen Orbit gewirkt haben, kann es sich positiv auswirken. In China wird Vertrauen in Wirtschaftsbeziehungen traditionell über mühsame Prozesse hergestellt: Man lernt sich kennen, geht miteinander essen und so weiter. Das ist ganz anders als zum Beispiel in Deutschland, wo Vertrauen durch den institutionellen Rahmen wie das BGB entsteht, in den man eingebettet ist.

In chinesischen Dokumenten über das Sozialpunktesystem wird es unter anderem damit begründet, dass die traditionelle Form, in China Vertrauen zu schaffen, heute nicht mehr funktioniert und vor allem zu kostenintensiv ist, um internationale Geschäfte zu machen.

Für chinesische Unternehmen kann es also positiv sein, wenn sie transparenter werden und ihnen dadurch mehr Vertrauen entgegengebracht wird.

Das Sozialkreditsystem wird im Westen unter anderem kritisch gesehen, weil es das Verhalten Einzelner beeinflussen soll. Das ist jedoch auch bei dem verhaltensökonomischen Konzept des Nudging der Fall. Berücksichtigen Sie das im Projekt?

Jens Großklags: Nudging ist bereits viel verbreiteter, als man annehmen würde. Es gibt in allen Regionen der Welt und in den meisten Ländern Abteilungen auf Regierungs- oder NGO-Ebene, die sich mit Nudging beschäftigen. Die Idee des Nudging ist, dass man, ohne harte ökonomische Anreize zu setzen, Personen in ihrem Verhalten in eine bestimmte Richtung leitet.

Das klassische Beispiel ist die Organspende, bei der es zwei Herangehensweisen gibt: Entweder entscheidet sich jeder selbst, ob er Organspender sein möchte, muss also aktiv zustimmen. Der andere Ansatz ist, alle automatisch zu Organspendern zu machen, es sei denn, man widerspricht. Je nachdem, welche Regeln gelten, gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern in der Bereitschaft, Organspender zu sein.

Wir wollen in unserem Projekt auch die Entwicklungen von Nudging-Ansätzen untersuchen und vergleichen, inwieweit solche Verfahren im chinesischen Sozialpunktesystem Anwendung finden. Das spielt eine Rolle, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob Befürchtungen berechtigt sind, dass das Sozialkreditsystem in China zu intensiv in den Markt und die Autonomie des Einzelnen eingreift.

Ein fundamentaler Unterschied zwischen dem chinesischen Sozialpunktesystem und vielen westlichen Ansätzen, sei es beim Nudging oder der Kreditbewertung, ist, dass viele Daten offengelegt werden und das sogenannte Public Shaming einkalkuliert ist. Das ist ein Ansatz, der in der chinesischen Kultur tief verankert ist. Dort gibt es schon im Kindergarten sogenannte Honor Rolls, die gutes und schlechtes Verhalten sichtbar machen.

Doris Fischer: Das Public Shaming and Blaming ist inhärent in der chinesischen Gesellschaft, deswegen regt sich die Bevölkerung über das Sozialkreditsystem auch nicht so auf.

Als ich in den 1990er-Jahren als Doktorandin in China war, hing im Eingang vom Wohnheim aus, wer von den Sprachkursteilnehmern regelmäßig zum Unterricht gekommen ist, wer zu spät war und wer die Prüfung wie gemacht hat – alles öffentlich.

In Deutschland wird dagegen vor allem kritisch über das Sozialpunktesystem berichtet. Wie sehen Sie das?

Eugénia da Conceição-Heldt: Große Tech-Firmen wie Google und Facebook sammeln enorme Mengen an Daten über uns an.

Auf einmal ist das Sozialpunktesystem da, und die Aufregung ist groß, weil China ein autoritäres System ist.

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Facebook steht inzwischen in der Kritik, wie das Unternehmen mit den Daten umgeht, die es sammelt. Im Gegensatz zum Sozialkreditsystem, das relativ transparent ist, kann man das von den Tech-Firmen nicht sagen. Unser Projekt hat also eine hohe tagespolitische Relevanz.

Es gibt in der Öffentlichkeit ein großes Interesse am Sozialkreditsystem und einen Bedarf, es zu verstehen. Viele ahnen, dass es nicht auf China beschränkt ist, sondern das Thema auch auf unsere Gesellschaft zukommen wird.

Prof. Dr. Doris Fischer Zum Profil

Doris Fischer: Ich glaube, das negative Bild kommt daher, dass in der Berichterstattung so vieles vermischt wird: eine Angst vor dem chinesischen politischen System, das Social Scoring, die Bild- und Videoüberwachung.

Den Titel unseres Projekts „Learning from the Frontrunner?“ haben wir im Team gewählt, weil es im Westen ähnliche Ideen gibt und die Politik fordert, mit neuen Technologien Schritt zu halten. Bei den sozialen Medien ist es ja bereits so, dass die westlichen Firmen nun die chinesischen Anbieter kopieren und nicht mehr anders herum. Ich bin der Meinung, dass man sich dieses System anschauen kann ohne die Vorannahme, dass es notwendigerweise nur in einem autoritären System denkbar ist.

Wir tun im Westen gerne so, weil wir uns dann um unsere Systeme keine Sorgen zu machen brauchen. Aber zu sagen, so etwas macht nur China, birgt die Gefahr, zu übersehen, was in unseren eigenen Gesellschaften möglicherweise läuft.