In null Komma nichts Millionär werden: Ende der 1990er-Jahre, als an der Frankfurter Börse der Neue Markt öffnete, schien das vielen auf einmal möglich. Die Dotcom-Unternehmen, die das Potenzial der damals neuen Internettechnologie nutzen wollten, bestimmten die Schlagzeilen der Wirtschaftsseiten. Wer im richtigen Moment beim richtigen Start-up anheuerte, konnte über seine Mitarbeiterbeteiligungen tatsächlich über Nacht reich werden.
Zu dieser Zeit war Thomas Hess schon mittendrin im ersten Digitalisierungsboom. Der Wirtschaftsinformatiker war bereits 1996 nach seiner Dissertation aus der Wissenschaft in die Wirtschaft gewechselt. „Ich wollte in eine Branche gehen, die von der digitalen Revolution, die damals absehbar war, besonders stark betroffen war.“ Er entschied sich für die Medienbranche, wurde bei Bertelsmann Assistent des Vorstands, der für Digitales zuständig war.
„Damals habe ich erlebt, wie ein sehr großes und erfolgreiches Medienunternehmen in einzelnen Punkten infrage gestellt wurde. Zugleich sind viele kleine Unternehmen entstanden, die dann aufgekauft wurden. Das hat meine Sicht auf Management und Unternehmen geprägt.“
Für den Wirtschaftsinformatiker sind die Medien ein „gutes Beispiel“ dafür, wie sich infolge einer neuen Technologie in der Wirtschaft Strukturen, Prozesse, Produkte und Profitabilität ändern können.
Als eine gänzlich neue Technologie aufkam
Thomas Hess spricht von Wellen, wenn er die Auswirkungen der digitalen Transformation beschreibt. In der ersten Welle setzte sich das Internet als Basistechnologie durch. Die gegenwärtige zweite Welle ist von der Allgegenwart von Daten und den Möglichkeiten Maschinellen Lernens bestimmt sowie von der Suche nach Anwendungsfeldern, etwa in der medizinischen Diagnostik.
„Das ist natürlich kein linearer Prozess. Damals, in den 90ern war völlig neu, dass mit dem Internet nach den klassischen Maschinen auf einmal eine gänzlich neue Technologie aufkam. Die Spekulationsblase an den Finanzmärkten war auch eine Überreaktion vieler Unternehmen aus dem Schreck heraus, dass sie da was tun müssen. Also haben sie viel Geld reingesteckt. Das ist wahrscheinlich nicht untypisch für solche radikalen Innovationen.“
Aber nicht nur die Unternehmen, ganz Deutschland war damals im Börsenfieber, wie die Tagesschau rückblickend formuliert – bis die Dotcom-Blase im September 2001 platzte und für Ernüchterung sorgte.
Wenn radikale Innovationen Bestehendes verdrängen
Danach gefragt, wie sich die Medienbranche seither geschlagen hat und ob auch Fehler angesichts der technologischen Veränderungen gemacht wurden, sagt Thomas Hess: „Es gibt sicher noch kein endgültiges Fazit. Es gibt eine Reihe von sehr großen Unternehmen wie Burda oder die Springer-Gruppe, die letztlich unternehmerisch richtig darauf reagiert haben, wenn auch zulasten ihrer publizistischen Rolle: Sie haben sich vom klassischen Content-Geschäft wegbewegt und, wie Axel Springer, elektronische Rubrik- und Anzeigenmärkte aufgebaut. Die kleinen und mittleren Unternehmen, die das nötige Investitionsvolumen nicht haben, tun sich natürlich schwerer und haben ihren Weg noch nicht gefunden. Was sie aber alle nicht gemacht haben: die Riesenchancen genutzt. Bertelsmann mit seiner Finanzkraft hätte sicherlich auch etwas aufbauen können, das in Richtung Amazon geht. Das haben die deutschen Unternehmen nicht hinbekommen.“
Im Zusammenhang mit dem Internet und digitalen Technologien fällt häufig der Begriff disruptiv, um die damit verbundenen Auswirkungen zu beschreiben.
„Oft ist unklar, was damit gemeint ist. Die breitere Definition ist, dass es sich um eine sehr radikale Innovation handelt, die Bestehendes verdrängt. Oft wird das Wort aber bezogen auf einzelne Produkte verwendet. Disruptiv heißt dann, dass ein neues Produkt nicht nur ganz anders ist als bisherige Produkte, sondern auch Merkmale hat, die den Kunden heute noch gar nicht interessieren“, erklärt Thomas Hess und verweist auf das Smartphone, das viele Eigenschaften hat, die mit den ihm vorhergehenden klassischen Handys wenig zu tun haben.
„Das ist für Unternehmen sehr schwer zu erkennen. Vor allem wenn der Kunde sagt: Ich will eigentlich nur telefonieren. So ist zum Beispiel Nokia kaputtgegangen. Die hatten das immer bessere Telefon gebaut, aber das weitere Konzept, dass man quasi einen Computer in der Tasche hat, nicht erkannt. Deswegen ist dieses Disruptive für Unternehmen so gefährlich: weil es versteckt ist. Und weil häufig Wettbewerber aus der Technologiebranche kommen, die man früher gar nicht hatte. Zum Beispiel im Bankenbereich: Da kommen auf einmal Unternehmen um die Ecke, die Zahlungsverkehrsdienste anbieten wie PayPal oder andere, die früher gar keine Banken waren, und bei denen es für die etablierten Unternehmen schwierig ist einzuschätzen, was die überhaupt tun.“
Karte neuer Technologien
Thomas Hess leitet das Institut für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien an der LMU. An seinem Institut hat er eine Art Technologielandkarte, auf der neue technologische Entwicklungen festgehalten werden. „Wir versuchen nach Relevanz zu sortieren und die wesentlichen Entwicklungen zu definieren. Und dann greifen wir in Projekten diese Technologien auf und untersuchen, was das für einzelne unternehmerische Bereiche bedeutet.“
Aktuell werden in einem Projekt zum Beispiel die sogenannten Paywalls, also Bezahlschranken, im Internet untersucht – ein Thema, das vor allem auch die Medienbranche umtreibt: Wie bringt man die Konsumentinnen und Konsumenten dazu, für Inhalte etwas zu bezahlen? „ Die Entwicklung geht da hin. Aber im Moment ist das vom Umsatz her noch im deutlich einstelligen Bereich, von daher schwingt auch sehr viel Hoffnung mit“, sagt Thomas Hess.
Um die Digitalisierung stärker in der Wirtschaft voranzutreiben, engagiert sich der LMU-Professor, der auch im Aufsichtsrat eines MDAX-Unternehmens sitzt, seit vielen Jahren im Verein Internet Business Cluster, der Wissenschaft, Wirtschaft und Praxis verbindet. Unter anderem über das Center for Digital Technology and Management bemüht er sich, Digitalisierung in der Lehre zu verankern.
Trotz aller Erfahrung und Forschung sowie seines informationstechnischen Hintergrunds sagt Thomas Hess: „Das Bewertungsproblem bleibt: Man kann sich auch mal verschätzen.“ So war zum Beispiel gerade im Medienbereich die Erwartung an Virtual Reality groß. „Es hat sich gezeigt, dass das im Medienbereich nicht so spannend ist, weil es viel zu teuer ist, 3-D-Filme zu drehen. In der Lagerhaltung machen die 3-D-Brillen dagegen Sinn, weil der Mitarbeiter so leichter sieht, wo zum Beispiel die Schrauben liegen, die er benötigt.“
Im Blick: Chancen aus Unternehmenssicht
Gefragt, ob es auch Entwicklungen gegeben habe, die ihn selbst überrascht haben, sagt Thomas Hess: „Mich hat zum Beispiel überrascht, dass Telekommunikationsunternehmen, die eine Riesenfinanzkraft hatten und dem Thema Internet durchaus nahe waren, es nicht geschafft haben, innovative Onlineservices zum Erfolg zu führen – dass das also für sie scheinbar noch schwieriger ist, als man es von anderen Branchen kennt.“
Beim bidt war der Wirtschaftsinformatiker von Anfang an dabei und bereits beim Aufbau des Vorgängerinstituts MCIR involviert. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Ursula Münch leitet er unter anderem ein Forschungsprojekt zu Digitalisierungsstrategien in den Bundesländern.
Forschungsprojekt
Die Wirkung digitaler Technologien ist so breit, dass man Wirtschaft und Gesellschaft adressieren muss.
Prof. Dr. Thomas Hess Zum Profil
Im interdisziplinär besetzten Direktorium sieht er seine Rolle darin, die unternehmerische Perspektive einzubringen.
„Wenn man die großen Herausforderungen sieht, die mit der Digitalisierung absehbar sind, gibt es kaum etwas, was rein disziplinär zu lösen wäre. Es ist wichtig, dass das auch jemand mit begleitet, der aus unternehmerischer Sicht auf die Chancen blickt. Häufig wird eher das Risiko gesehen, die Chancen werden nicht immer erkannt.“
Disruptive Technologien innerhalb eines klassischen Unternehmens zu nutzen ist unheimlich schwierig.
Prof. Dr. Thomas Hess Zum Profil
Von den Chancen erzählen heute, fast 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Neuen Markts, Unternehmen wie Amazon, Google oder Facebook. „Disruptive Technologien innerhalb eines klassischen Unternehmens zu nutzen ist unheimlich schwierig“, sagt Thomas Hess.
„Es ist ja nicht so, dass das etablierten amerikanischen Unternehmen gelungen wäre. Das sind ja neue Unternehmen, was ganz typisch ist bei disruptiven Innovationen. Das größere Problem ist, dass diese Unternehmen bislang nicht in Europa entstanden sind. Einschränkend muss man aber sagen: Wir reden im Moment noch über Consumerprodukte, alles das, was private Konsumenten benutzen. Da haben die deutschen und europäischen Unternehmen keine gute Marktposition, weil sie zu langsam waren, die Technologie nicht verstanden haben, teilweise auch das Kapital nicht hatten. Ob das auch bei den Industriegütern so sein wird? Das ist zumindest noch unklar.“