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Digitaler Humanismus – was er ist und was aus ihm folgt

Die Digitalisierung der Lebenswelt ist in vollem Gange, ihre Folgen werden in den kommenden Jahren immer deutlicher zu sehen sein. Klaus Staudacher gibt einen Einblick in das Konzept eines digitalen Humanismus, welcher darauf abzielt, die digitale Transformation als Chance für den einzelnen Menschen zu begreifen.

Digitaler Humanismus erklärt
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Wie alle Technologien der Vergangenheit sind auch die digitalen Technologien ambivalent. Die digitale Transformation wird unsere Lebensbedingungen nicht automatisch humanisieren – es kommt darauf an, wie wir diese Technologie nutzen und entwickeln. Der digitale Humanismus plädiert für einen instrumentellen Umgang mit den digitalen Technologien: Was kann wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell nützlich sein, und wo lauern potenzielle Gefahren? Der digitale Humanismus hat eine philosophische Tiefendimension (vgl. Nida-Rümelin, J. (2018)), nämlich die Sonderstellung des Menschen als von Gründen geleiteten Autorinnen und Autoren ihres Lebens und damit die Frontstellung gegen die Ausweitung von Autorschaft auf Maschinen, und er versteht sich als eine Ethik für das digitale Zeitalter, die den Prozess der digitalen Transformation gemäß den Kerngedanken der humanistischen Philosophie interpretiert, begleitet und gestaltet.

Was aber sind die Kerngedanken des Humanismus?

Der Begriff Humanismus hat ein breites Bedeutungsspektrum. Wenn wir hier von Humanismus sprechen, dann nicht im Sinne einer historischen Epoche, wie etwa des italienischen Frühhumanismus (Petrarca), des deutschen Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert (Erasmus) und schließlich des Neuhumanismus im 19. Jahrhundert. Es handelt sich auch nicht um ein spezifisch westliches oder europäisches Kulturphänomen, denn humanistisches Denken und Handeln gibt es auch in anderen Kulturen. Wir verstehen unter Humanismus eine bestimmte Vorstellung von dem, was das Menschsein eigentlich ausmacht, verbunden mit einer Praxis, die diesem humanistischen Ideal so weit wie möglich entspricht. Es bedarf dabei keiner ausgearbeiteten humanistischen Philosophie, um eine humanistische Praxis zu verwirklichen.

Im Zentrum humanistischer Philosophie und humanistischer Praxis steht die Idee menschlicher Autorschaft: Menschen sind Autorinnen und Autoren ihres Lebens, sie tragen als solche Verantwortung und sind frei. Freiheit und Verantwortung sind zwei sich wechselseitig bedingende Aspekte menschlicher Autorschaft. Verantwortung und Freiheit sind wiederum an Vernunftfähigkeit gebunden. Vernunft lässt sich dabei als die Fähigkeit charakterisieren, die Gründe, die jeweils für oder gegen bestimmte Handlungen, Überzeugungen und Einstellungen sprechen, angemessen zu deliberieren. Freiheit ist dann die Möglichkeit, genau den in einem solchen Abwägungsprozess für besser befundenen Gründen auch folgen zu können. Wenn ich frei bin, sind es also jeweils meine durch Deliberation ermittelten Gründe, die mich leiten, so oder so zu urteilen und zu handeln. Verantwortung setzt darüber hinaus ein gewisses Maß an Autonomie voraus: Menschen sind nicht reine Befehlsempfängerinnen und ‑empfänger und erfüllen nicht einfach die ihnen extern vorgegebenen Ziele, sondern sind aufgrund ihrer Vernunftfähigkeit zumindest grundsätzlich in der Lage, die Sinnhaftigkeit solcher Zielvorgaben inhaltlich zu hinterfragen und sich auch selbst übergeordnete Ziele zu setzen. Diese Trias aus Vernunft, Freiheit und Verantwortung spannt ein Cluster von normativen Begriffen auf, welches das humanistische Verständnis der conditio humana bestimmt und in einem langwierigen kulturellen Prozess über Jahrhunderte sowohl die lebensweltliche Moral als auch die Rechtsordnung prägt.

Der Kerngedanke humanistischer Philosophie und Praxis, die menschliche Autorschaft, lässt sich also durch die Art und Weise charakterisieren, wie wir uns gegenseitig Verantwortung zuschreiben und uns dabei als vernünftige und zumindest grundsätzlich auch freie und autonome Wesen behandeln. Für den Humanismus ist damit ein mechanistisches Paradigma, demzufolge der Mensch nichts anderes ist als eine zwar komplexe, aber in ihrem Verhalten vollständig determinierte Maschine, klar zurückzuweisen. Er stellt diesem Paradigma das Menschenbild einer grundsätzlich selbstbestimmt und sowohl allein als auch im Kollektiv handelnden Akteurin oder eines Akteurs gegenüber. Im Sinne dieses Menschenbildes sieht es der Humanismus als Ziel und Aufgabe an, die menschliche Urteils- und Entscheidungskompetenz durch geeignete Maßnahmen zu fördern, um so die individuelle und kollektive Autonomie zu stärken.

Menschliche Autorschaft lässt sich weiterhin in Beziehung setzen zum Prinzip der Menschenwürde, das im deutschen Grundgesetz eine herausragende Stellung einnimmt und dort als Grundlage für die Geltung von Menschen- und Grundrechten fungiert. Dort, wo Menschen von anderen gezielt jedwede Möglichkeit genommen wird, Autorin und Autor ihres Lebens zu sein, sodass sie zu überhaupt keinem autonomen, also selbstbestimmten Handeln mehr fähig sind, ist auch ihre Menschenwürde verletzt – und Eingriffe in Menschen- und Grundrechte sind immer auch Beeinträchtigungen der Entfaltungsmöglichkeiten menschlicher Autorschaft. Die verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen für Eingriffe in Grundrechte sind daher auch aus humanistischer Perspektive relevant. Insbesondere sind rein auf Folgenoptimierung abstellende utilitaristische Erwägungen mit einem humanistischen Ansatz nicht vereinbar.

Was bedeutet dieses Verständnis humanistischer Philosophie nun für den digitalen Humanismus, also für eine sich an humanistischen Prinzipien orientierende Interpretation und Gestaltung des Prozesses der digitalen Transformation? In ethischer-philosophischer Hinsicht lassen sich folgende Grundsätze und Forderungen formulieren:

Ablehnung des animistischen Paradigmas („Maschinen sind (wie) Menschen“)

Das animistische Paradigma ist aus humanistischer Perspektive ebenso abzulehnen wie das mechanistische, denn auch, wenn nicht auszuschließen ist, dass es
irgendwann in ferner Zukunft KI-Systeme geben könnte, denen Vernunft, Freiheit
und Autonomie in vergleichbarer Weise zukommt wie uns Menschen, bleibt
festzuhalten, dass dies bei heutiger KI definitiv noch nicht der Fall ist. Auch Programme, wie beispielsweise die generative KI ChatGPT oder das autodidaktische Computerprogramm AlphaZero, die durchaus beeindruckende Leistungen zeigen, erfüllen lediglichwenn auch sehr effizient – die ihnen extern vorgegebenen Ziele. Sie können diese Ziele aber nicht inhaltlich hinterfragen oder sich selbst übergeordnete Ziele setzen, und sie verfügen im Gegensatz zu uns Menschen auch nicht über intentionale Zustände (propositionale Einstellungen, wie z. B. Überzeugungen, Wünsche, Absichten, Erwartungen, Hoffnungen).

Die Verantwortung liegt nach wie vor beim Menschen und nicht bei Maschinen

Da es auch komplexen KI-Systemen über das für die Zuschreibung von Verantwortung erforderliche Maß an Vernunft, Freiheit und Autonomie
fehlt, ist ein Konzept der E-Person abzulehnen, das Maschinen als zurechnungsfähige Akteure ansieht, die für ihr Verhalten verantwortlich
gemacht werden können. Der digitale Humanismus hält an den
menschlichen Bedingungen verantwortlicher Praxis fest. Er fordert die
Ausweitung der Verantwortungszuschreibungen auf die von digitalen Technologien
vermittelten Kommunikationen und Interaktionen und erlaubt es den eigentlichen Akteurinnen und Akteuren (und das sind wir Menschen) nicht, ihre Verantwortung auf die vermeintliche Eigengesetzlichkeit digitaler Maschinen abzuwälzen.

Keine ethisch relevanten Entscheidungen durch KI

Ethisch relevante Entscheidungen, wie sie beispielsweise im Fall des autonomen Fahrens anstehen können, dürfen nie (allein) von algorithmisch funktionierender KI
gefällt werden, denn

  • algorithmisch funktionierende KI kann nichts entscheiden. Bei „echten“ Entscheidungen steht das Ergebnis der Entscheidung nicht schon von vornherein fest, denn sonst gäbe es ja nichts mehr zu entscheiden. Bei Algorithmen hingegen sind die Regeln, nach denen sie operieren, entweder schon vorab durch eine Programmiererin oder einen Programmierer festgelegt worden oder diese Regeln haben sich – wie beim Machine Learning – aufgrund von Input-Output-Vorgaben entwickelt.
  • die algorithmeninhärente und konsequentialistisch (d. h. auf die Herbeiführung der im Sinne der Programmvorgabe jeweils besten Folgen) ausgerichtete Optimierungsfunktion ist weder mit der Menschenwürde noch mit den durch Grundrechte gesetzten Rahmenbedingungen liberaler Verfassungen vereinbar.
  • sofern der Ansatz verfolgt wird, bei der Programmierung eines Algorithmus bereits im Voraus alle relevanten Umstände für jeden Einzelfall zu berücksichtigen, trägt dies der Komplexität und Kontextsensitivität ethischer Entscheidungssituationen nicht in angemessener Weise Rechnung.

Das gerade angeführte Beispiel des autonomen Fahrens steht hier nur für eine generelle Problematik softwaregesteuerter Verhaltensprogramme. Es ist insofern besonders illustrativ, als unter den aktuellen Bedingungen im Straßenverkehr, zumindest in den Innenstädten, eine Vielzahl komplexer Interaktionssituationen auftritt. Der digitale Humanismus empfiehlt den konsequenten, wohldurchdachten Einsatz aller Potenziale digitaler Technologien, um den Schutz von Leben und Gesundheit im Straßenverkehr zu verbessern. Zugleich aber warnt er vor den inhumanen Konsequenzen eines Optimierungskalküls, indem Menschenleben gegen Menschenleben, Menschenleben gegen Gesundheit, Gesundheit der einen gegen
Gesundheit des anderen, Individualrechte gegen Individualrechte verrechnet werden.

Digitale Souveränität

Das Konzept der digitalen Souveränität lässt sich nicht nur auf Staaten und Unternehmen, sondern auch auf menschliche Individuen anwenden. Um menschliche Autorschaft auch im Prozess der digitalen Transformation zu bewahren und zu ermöglichen, bedarf es einer individuellen digitalen Souveränität. Die individuelle digitale Souveränität wird in gewissem Umfang durch das vom Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 GG hergeleiteten Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt, denn Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sind auch immer Eingriffe in die individuelle digitale Souveränität. Da es dabei aber nicht nur um die individuelle Verfügungsgewalt über die jeweils eigenen personenbezogenen Daten geht, sondern ganz allgemein um einen selbstbestimmten Umgang mit digitalen Anwendungen, ergeben sich daraus auch Forderungen, die von dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht mitabgedeckt werden.

So setzt individuelle digitale Souveränität des Weiteren voraus:

Internetzugang für alle

Die Entwicklung des Word Wide Web ist bereits für weite Regionen der Weltgesellschaft so weit gediehen, dass der Ausschluss von der Internetkommunikation die Bürgerinnen und Bürger bei der Ausübung von grundlegenden Rechten behindern kann. Zu nennen sind hier insbesondere die Grundrechte der Informationsfreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung, der Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Bildung, die alle auch online ihren Schutzbereich entfalten. Das Recht auf Internetzugang sollte daher einen verfassungsrechtlich garantierten grundrechtlichen Status haben, sei es als eigenständiges Grundrecht oder abgeleitet aus den gerade genannten Rechten, für deren Onlinewahrnehmung ein Internetzugang eine notwendige Voraussetzung darstellt. 

Bildung: Vermittlung von digitaler Kompetenz (Digital Literacy)

Während nichtdigitale Recherche häufig mit zum Teil zeitaufwendigen Ortswechseln verbunden ist, ermöglicht ein freier Internetzugang den direkten Zugriff auf eine bisher nicht gekannte Fülle und Vielfalt von Inhalten (Geschichten, Theorien, Thesen, Interpretationen, Ideologien) in Bild- und Textform. Es ist eine Kernaufgabe von Staat und Gesellschaft, allen Bürgerinnen und Bürgern nicht nur die Fertigkeiten zu vermitteln, die erforderlich sind, um effektiv an diese Inhalte zu gelangen, sondern darüber hinaus auch die Fähigkeit, vertrauenswürdige von unzuverlässigen Informationen zu unterscheiden und damit auch möglichst umfangreiche Kenntnisse darüber, wie Inhalte im Netz zustande kommen.

Die Anwendung digitaler Tools ist aber nicht auf den Bereich der Recherche beschränkt, sondern betrifft ebenso auch Formen der Kommunikation und Partizipation, und zwar sowohl im Hinblick auf rein private, persönliche oder berufliche bzw. geschäftliche Kontakte als auch im Verhältnis Staat – Bürger. Auch hier muss es das Ziel sein, im Rahmen des Möglichen jede Bürgerin und jeden Bürger in die Lage zu versetzen, die dafür notwendigen grundlegenden digitalen Techniken zu beherrschen.

Kein Zwang zur digitalen Partizipation

Da digitale Partizipation die Kommunikation erleichtern kann, ist sie als Phänomen zunächst durchaus positiv zu bewerten und sollte für jede Person, die diese Art der Teilnahme und Teilhabe für sich will, möglich sein. Die Frage ist allerdings, ob es auch Bereiche geben soll, bei denen ohne dass dies (wie etwa bei der Nutzung sozialer Plattformen) jeweils wesensnotwendig wäre – eine Partizipation entweder nur noch digital möglich ist oder die digitale Partizipation zumindest mit weniger Aufwand und Kosten verbunden wäre als entsprechende nicht digitale Formen der Teilnahme/Teilhabe. Das ist aus Sicht des digitalen Humanismus problematisch, denn es sollte auch Teil der individuellen digitalen Souveränität einer jeden Person sein, frei über den Umfang und die Art ihrer digitalen Partizipation entscheiden und auf diese auch ganz verzichten zu können, ohne dass für sie damit eine unbillige Benachteiligung einhergeht. Anders formuliert:

Immer wenn Partizipation auch auf nichtdigitalem Weg möglich ist, sollte diese Option eines nichtdigitalen Zugangs grundsätzlich auch weiterhin jeder Person offenstehen. Und in den Bereichen, in denen eine nicht digitale Partizipation technisch nicht machbar ist oder aus Kostengründen nicht mehr vertretbar erscheint, ist eine allgemeine individuelle digitale Souveränität nur zu erreichen, wenn durch die Vermittlung digitaler Kompetenz gewährleistet ist, dass jede dazu grundsätzlich befähigte Person die für die jeweilige digitale Partizipationsform erforderlichen Fertigkeiten unabhängig von ihrem sozialen Status erlernen kann.

Transparente Kommunikation

Der humanistische Ansatz ist auch für unser Kommunikationsverhalten von Bedeutung. Wir agieren unterschiedlich, je nachdem, ob wir davon ausgehen,
dass es sich bei unserem Gegenüber um eine Maschine oder um einen Menschen handelt. Nur Menschen halten wir für in der Regel voll zurechnungsfähig und gehen daher davon aus, dass sie ihr Verhalten intentional selbst steuern können und zumindest grundsätzlich in der Lage sind, die Inhalte, die sie mitteilen und die ihnen mitgeteilt werden, auch zu verstehen. Virtuelle Identitäten, etwa in Form von Chatbots, verfügen dagegen über keinerlei Intentionen, sondern werden von Algorithmen gesteuert. Sie beabsichtigen nichts und können daher weder Entscheidungen fällen noch kommunizieren. Wir haben deshalb ein Recht darauf zu erfahren, ob wir es mit einem Menschen oder einer Maschine zu tun haben.

Schreiben, die softwaregesteuert ohne personale Kontrolle ausgelöst werden und die Auskunft eines Mitarbeitenden fingieren, den es gar nicht gibt, müssen daher unterbleiben. Zur Transparenz gehört die Kommunikation der Zuständigkeiten nach außen und die Sicherstellung verlässlicher personaler Kontakte zwischen Unternehmen und Kunden.

Demokratie

Die sogenannte E-Partizipation (elektronische Partizipation), also die Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungsprozessen durch internetgestützte Verfahren, ist als Weiterentwicklung von klassischen Verfahren der Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung aus Sicht des digitalen Humanismus ausdrücklich zu begrüßen. Der fortschreitende Prozess der Digitalisierung lässt allerdings auch die Verwirklichung einer vollständig direkten Demokratie, in der alle politischen Entscheidungen ohne Delegierung direkt vom Volk getroffen werden, selbst in großen und einwohnerreichen Flächenstaaten technisch und organisatorisch möglich erscheinen. Dies könnte dazu verleiten, in Mehrheitsentscheidungen, die in allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen und Abstimmungen ermittelt werden, das einzige Wesensmerkmal demokratischer Entscheidungsprozesse zu sehen. Und tatsächlich steht Demokratie als Volksherrschaft ja auch für diejenige Herrschaftsform, bei der das Volk sich selbst regiert.

Demokratie ist jedoch – zumindest nach dem in westlichen Demokratien vorherrschenden liberalen Verständnis – noch wesentlich mehr. So gilt der Grundsatz der Gewaltenteilung. Darüber hinaus ist die Demokratie auch diejenige Staatsform, die darauf ausgerichtet ist, die Menschenrechte zu verwirklichen; sie geben dabei als in die Verfassung inkorporierte Grundrechte den Rahmen vor, in dem Mehrheitsentscheidungen und Allgemeinwohlerwägungen zulässig sind. Diese menschenrechtliche Verfasstheit der Demokratie ist aus humanistischer Perspektive von herausragender Bedeutung, denn wie wir bereits gesehen haben, schützen und ermöglichen Menschenrechte die Entfaltung menschlicher Autorschaft.

Weiterhin gehen von der Legislative getroffene Mehrheitsentscheidungen häufig Sachverständigenanhörungen in parlamentarischen Fachausschüssen voraus sowie ein Prozess öffentlicher Deliberation, indem nicht einfach (nur) unterschiedliche Interessenstandpunkte vorgebracht werden, sondern indem (zumindest auch) mit Wahrheitsansprüchen für die eigene Position argumentiert wird.

Diese Wesensmerkmale liberaler Demokratien müssen grundsätzlich auch bei der Nutzung digitaler Partizipationsmöglichkeiten beibehalten werden, denn sie dienen dem humanistischen Ziel, die Urteils- und Entscheidungskompetenz und damit die individuelle und kollektive Autonomie zu stärken. Die digitalen Informations- und Entscheidungstechnologien sind also als Ergänzung der parlamentarischen, repräsentativen, rechtsstaatlich verfassten Demokratien einzusetzen – doch sind sie lediglich Unterstützung, kein Ersatz. Auch wenn es keine Expertinnen und Experten und keine letztgültigen Vorabkriterien für richtige politische Entscheidungen gibt, setzen angemessene politische Entscheidungen doch auf allen Ebenen (also nicht nur bei Politikerinnen und Politikern, sondern auch bei den sich durch Wahlen, Abstimmungen und politisches Engagement einbringenden Bürgerinnen und Bürgern) Sachkenntnis voraus. Das Internet kann hier einerseits als Informationsquelle gute Dienste leisten. Andererseits gehen von algorithmischen Verfahren, die Meldungen unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt und auf der Grundlage einer erhöhten Anzahl von Klicks und weiteren Nutzerreaktionen priorisieren und favorisieren, aber auch große Risiken für die Demokratie aus. So wird die ohnehin bestehende Gefahr, dass politische Entscheidungen nicht faktenbasiert, sondern auf der Basis von Stimmungen getroffen werden, weiter verschärft.

Schlussbemerkung

Der digitale Humanismus stellt also darauf ab, die Potenziale der digitalen Transformation für eine humanere und gerechtere Zukunft der Menschheit im Sinne des humanistischen Menschenbildes einer grundsätzlich eigenverantwortlichen und freien Akteurin/eines Akteurs zu nutzen. Digitale Anwendungen dürfen die Entfaltungsmöglichkeiten menschlicher Autorschaft daher nicht einschränken, sondern sie sollen diese erweitern und die Menschen von zeitaufwendiger, rein schematischer Rechen- und Auflistungsarbeit entlasten. Der Einsatz digitaler Techniken darf dabei nicht zu sozialen Verwerfungen führen.

In philosophischer Hinsicht richtet sich der digitale Humanismus gegen das, was man etwas vereinfachend als Silicon-Valley-Ideologie bezeichnen kann. Der Schlüsselbegriff dieser Ideologie ist der der Künstlichen Intelligenz, der mit impliziter Metaphysik und Theologie aufgeladen ist, ein sich selbst verbesserndes, hyperrationales, zunehmend beseeltes System, dessen Schöpfer jedoch nicht Gott ist, sondern Softwareingenieurinnen und ‑ingenieure, die sich nicht nur als Teil einer Branche, sondern einer übergreifenden Bewegung verstehen, die ein digitales Paradies auf Erden verwirklichen. Digitaler Humanismus lehnt eine solche „Homo Deus“-Konzeption von Menschen als Individuen erschaffende „Götter“ ebenso ab wie transhumanistische Utopien und neoanimistische Auffassungen über Softwareagenten. Er will demgegenüber zu einem spezifisch europäischen Weg der Digitalisierung beitragen, der die individuelle Autonomie und Würde respektiert und neue Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben eröffnet.

Klaus Staudacher

Wissenschaftlicher Referent, bidt

Literatur

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