Valerie Mocker war Speakerin beim For..Net Symposium, das im April 2021 in Kooperation des bidt und der Forschungsstelle für IT-Recht und Netzpolitik an der Universität Passau stattfand.
Nachbericht | 15. FOR..NET SYMPOSIUM
Sie arbeitet als Investorin für Gemeinwohl und bildet mit der Wingwomen Academy Führungskräfte aus. Sie war Europa-Direktorin bei Nesta, einem Fonds für soziale Innovationen in Großbritannien. Im Interview spricht sie über die Voraussetzungen einer gemeinwohlorientierten Digitalisierung und wirbt dafür, sich laufend weiterzubilden.
Sie setzen sich für gemeinwohlorientierte Digitalisierung ein. Was genau versteht man darunter?
Die Kernidee von gemeinwohlorientierter Digitalisierung ist, dass sie für viele und von vielen gemacht ist. Ein Paradebeispiel dafür ist Wikipedia, eine der fünf am meisten genutzten Webseiten der Welt. Dahinter steht die Mission, das Wissen dieser Welt allen verfügbar zu machen. Wikipedia wird also zum einen von sehr vielen Menschen genutzt, ist aber zugleich ein Produkt, das von Zehntausenden Ehrenamtlichen gemacht wird, an dem von allen mitgeschrieben werden kann.
In Ihrem Vortrag beim For..Net Symposium haben Sie jeden Einzelnen aufgefordert, „sich selbst mehr einzumischen, damit Digitalisierung etwas ist, was von allen gestaltet werden kann“. Warum ist das wichtig?
Digitale Produkte haben einen großen Einfluss auf unser aller Leben, auf unseren Alltag und auch unsere Chancen. Sie werden zum Beispiel bald bei der Betreuung von älteren Menschen eine größere Rolle spielen, weil Pflege stärker digitalisiert werden wird. Ein anderes Beispiel ist der Einsatz Künstlicher Intelligenz, der die Herausforderung mit sich bringt, dass damit – je nachdem, mit welchen Daten Algorithmen trainiert werden – unter Umständen Vorurteile reproduziert werden. Wenn zum Beispiel Künstliche Intelligenz in Jobcentern eingesetzt wird, um Arbeitslose in Jobs zu vermitteln, kann das bedeuten, dass Frauen vor allem Teilzeitjobs angeboten werden, nur weil bislang viele Frauen Teilzeit arbeiten. Das zeigt, wie wichtig es ist, wer solche Programme schreibt, finanziert und die Regeln dafür setzt. Wenn über Zukunft und Digitalisierung gesprochen wird, schwingen dabei immer diese Fragen mit: Wer entscheidet, wofür Digitalisierung eingesetzt werden soll? Wer profitiert davon und wer nicht?
Damit Digitalisierung kein Elitenprojekt wird, wo eine kleine Gruppe hinter verschlossenen Türen die Regeln der Zukunft entscheidet, müssen viele mitmachen, um die Digitalisierung zu gestalten und die Zukunft mit in die Hand zu nehmen.
Valerie Mocker, Digitalexpertin
Es „müssen viele mitmachen“, sagen Sie. Wie meinen Sie das?
Es reicht nicht, sich damit zufriedenzugeben, dass andere digitale Produkte entwickeln. Wir alle müssen uns selbst weiterbilden und verstehen, wie die digitalen Technologien funktionieren. Mitgestaltung und Mitbestimmung erfordern, dass alle sich einmischen und jede und jeder Einzelne sich auch mündig fühlt und dafür befähigt.
Die digitalen Anwendungen zu nutzen ist oft sehr simpel. Dahinter stecken aber zumeist komplexere Zusammenhänge, so wie Sie es vorhin auch für die Künstliche Intelligenz beschrieben haben. Wie ist Ihr Eindruck, wo steht die Gesellschaft hier?
Studien, wie von der Initiative D21 in Deutschland, untersuchen regelmäßig, wie gut die Digitalkompetenz in der Gesellschaft ist. Sie zeigen, dass sich ein großer Teil der Bevölkerung von vielen technologischen Trends überfordert fühlt. Es gibt aber auf der anderen Seite interessante Initiativen, die ansetzen, das zu ändern. Von denen viele aber gar nicht wissen. Eine ist zum Beispiel das Programm „The Elements of AI“, das auch in Deutschland angeboten wird, gefördert vom Wirtschaftsministerium. Das ist ein Kurs über Künstliche Intelligenz, bei dem jeder kostenlos mitmachen kann. Er wurde in Finnland von einer Gruppe von Forschern an der Universität Helsinki entwickelt, mit dem Ziel, KI für alle verständlich zu machen. Das ist nur ein Beispiel, das darauf abzielt, uns alle mündiger für die Digitalisierung zu machen.
Aber es braucht dafür auch die Bereitschaft jedes Einzelnen, weiter zu lernen und sich die Neugier zu erhalten auf immer Neues, das man verstehen möchte.
Valerie Mocker, Digitalexpertin
Welchen Beitrag können Wissenschaft und Forschungsinstitutionen zu einer gemeinwohlorientierten Digitalisierung leisten?
Ich glaube, Forschungsinstitute können in zwei Bereichen dazu beitragen. Erstens, indem sie sich um Wissenstransfer bemühen und das, was sie entwickeln, für alle verständlich machen. Und zweitens bedeutet es, in der Lehre eine Generation von jungen Führungskräften auszubilden, die auch das Verständnis dafür haben, dass sie sich einmischen müssen. Denn um digitaler Mitgestalter zu sein, braucht es natürlich das technische Verständnis. Aber dazu gehört auch die Einstellung jedes Einzelnen, dass man sich einmischen darf und soll. Es braucht den Mut, mitzugestalten, und das heißt auch, die Angst vor einem möglichen Scheitern auszuhalten. Gerade in Wissenschaftsorganisationen ist dafür eine gewisse Herzlichkeit wichtig: Denn innovative digitale Ideen entstehen gerade in einem Umfeld, in dem man einander vertraut und jeder offen seine Ideen teilen kann.
Sie sind gebürtige Hamburgerin, leben aber seit Ihrem Studium in England. Wenn Sie heute zu Vorträgen nach Deutschland kommen: Sehen Sie Unterschiede beim Umgang mit der Digitalisierung?
Es gibt einige Unterschiede, die ich besonders in zwei Bereichen bemerke: In Großbritannien heißt es schneller: einfach mal ausprobieren. In Deutschland ist dagegen noch immer eine Arbeitsweise sehr verbreitetet, die sich gut in diesem Spruch ausdrückt: „Wenn du nicht mehr weiterweißt, bilde einen Arbeitskreis.“ Und dann gibt es einen runden Tisch und Strategiepapiere. Der zweite Unterschied, den ich gerade als jüngere Frau erlebe: In Deutschland sind Firmen, aber auch Universitäten oft noch sehr hierarchisch strukturiert. Das Arbeiten auf Augenhöhe miteinander klappt in den angelsächsischen Ländern besser.
Was sind Ihrer Ansicht nach die drängendsten Fragen im Zusammenhang mit der Digitalisierung?
Digitalisierung bringt Macht mit sich. Eine der drängendsten Herausforderungen ist daher die Frage:
Wer sind eigentlich die Menschen, die entscheiden, was, wie und wer finanziert wird?
Valerie Mocker, Digitalexpertin
Die Entscheidungsräume in unserer Gesellschaft sind momentan sehr homogen und nicht gerade divers besetzt, vor allem mit Menschen ab 55 aufwärts. Das heißt: Ganze Generationen, die als Digital Natives beschrieben werden, sind nicht vertreten, und auch viele Gesellschaftsschichten sind nicht repräsentiert. Dabei zeigen viele Studien, dass Diversität zu besseren Entscheidungen führt. Diese Frage nach Macht ist natürlich auch unangenehm. Aber Wandel ist nie eine Win-win-Situation für alle. Damit mehr Menschen in der Gesellschaft mitgestalten können, müssen andere Platz machen und auch einen Teil ihrer Entscheidungsmacht abgeben und Neuen eine Chance ermöglichen.
Sie selbst haben zunächst Archäologie studiert. Da schien der Weg zur Digitalexpertin nicht vorgezeichnet, oder?
Mein Lebenslauf ist hoffentlich eine Ermutigung an alle, dass man sich mit jedem fachlichen Hintergrund bei der Digitalisierung einmischen kann. Mir zeigt er zwei Dinge: Zum einen gilt in den angelsächsischen Ländern die Ausbildung eher als Training. Es wird nicht erwartet, dass eine Archäologiestudentin unbedingt Archäologin wird. In dem Fonds bei Nesta, den ich lange mitgeleitet habe, war das Team sehr interdisziplinär besetzt. Die Kolleginnen und Kollegen hatten Kunst, Wirtschaft oder Jura studiert.
Das Zweite ist: Wir sollten Digitalisierung breiter denken. Digitalisierung ist nicht nur, ein Computerprogramm zu schreiben. Das ist natürlich wichtig. Aber besonders, wenn es um die gesellschaftlichen Implikationen geht, um die großen strukturellen Fragen – etwa wie Geld verteilt wird –, und auch darum, Szenarien zu entwickeln, wie wir in Zukunft leben wollen, war mein Studium der Archäologie und Anthropologie sehr hilfreich. Denn es berührt Fragen, wie Gesellschaften funktionieren und welche Mechanismen sie zusammenhalten. Heute ist genau das eine der wichtigsten Fragen: Wie sollte unsere Gesellschaft und unsere Zukunft mit der Digitalisierung aussehen?