E-Commerce ist in der heutigen Zeit ein fester Bestandteil der digitalen Ökonomie. Während Shopping im stationären Handel früher die Regel war, kaufen heute bereits 82 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten in Deutschland ihre Waren und Produkte auch über digitale Plattformen. [1] Jedoch bestehen im Bereich des E-Commerce noch immer Nachteile gegenüber dem stationären Handel, die sich digital bisher nicht aufwiegen lassen: Der Onlineeinkauf ist mit einem höheren Risiko verbunden, da die Kundinnen und Kunden das Produkt (z. B. dessen Größe oder Farbe) nur anhand von Bildern beurteilen und nicht in die Hand nehmen oder anziehen können. Diese Nachteile wirken sich nicht nur negativ auf die ökonomische Nachhaltigkeit von Unternehmen aus, sondern auch auf die ökologische, da die Retourenquote im E-Commerce deutlich höher ist als im stationären Handel.
Um diesen Nachteilen im E-Commerce zu begegnen, wird einer sich momentan immer größerer Beliebtheit erfreuenden Technologie großes Potenzial zugeschrieben: Augmented Reality (AR). Mithilfe der AR-Technologie ist es möglich, digitale Abbilder von physischen Produkten vorab zu betrachten, mit ihnen zu interagieren oder sich ihre Funktionalität virtuell vorführen zu lassen. Dazu werden 3D-Modelle der Produkte erstellt, die über eine Applikation abgerufen werden können. Eine Besonderheit dabei ist, dass die Produkte – im Gegensatz zu Virtual Reality (VR) – direkt in der physischen Umgebung des Nutzenden dargestellt werden können. Dadurch bekommt man nicht nur ein besseres Gefühl für das Produkt als solches, sondern auch dafür, wie es im Raum wirkt, ob es einem „steht“, ob das Produkt die richtige Größe hat oder beispielsweise in die Küchennische passt. Die daraus resultierenden positiven Effekte auf den Einkaufsprozess sind vielfältig: Aktuelle Studien versprechen, dass das Einkaufserlebnis für die Kunden durch AR lebendiger und interaktiver wird, ihre Neugierde geweckt wird und sie besser informierte Kaufentscheidungen treffen können. Dadurch steigt unter anderem die Intention, das Produkt zu kaufen oder weiterzuempfehlen und den Store wieder zu besuchen (Übersicht zu Effekten: siehe [2]).
Zu den frühen AR-Ansätzen gehören computerbasierte AR-Anwendungen, die auf die Webcam des PCs oder Laptops zurückgreifen, um Inhalte in den Raum oder das Gesicht der Nutzerin oder des Nutzers zu projizieren. Diese Systeme sind noch immer weit verbreitet und Brillenträgern beispielsweise durch die Anwendung von Mister Spex bekannt. [3] Die am häufigsten verwendeten Geräte für AR-Anwendungen sind heutzutage jedoch Smartphones und Tablets, die es ermöglichen, sich freier in der eigenen Umgebung zu bewegen und die Produkte an Orten zu platzieren, die über den stationären Blickwinkel einer Webcam hinausgehen. Da sich Großkonzerne und kleine und mittelständische Unternehmen (KMUs) viel von der Technologie versprechen, finden diese Smartphone- und Tablet-basierten Anwendungen auch immer weitere Verbreitung. IKEA ermöglicht es seinen Kunden beispielsweise bereits seit 2017, bestimmte Möbelstücke und Designobjekte virtuell in der eigenen Wohnung zu platzieren. [4] Mit der AR-Applikation von Schöner Wohnen [5] kann man sich die Farbe an der Wand schon vorab vorstellen. Trotz dieser sich bereits abzeichnenden Vorteile der Technologie stehen wir bei der Ausschöpfung der Potenziale von AR im Bereich des E-Commerce erst am Anfang. Während die meisten Applikationen zur Zeit, wie bereits beschrieben, auf Smartphones, Tablets und die Grundfunktionalitäten der AR-Technologie (platzieren, drehen, skalieren) zurückgreifen, lassen einzelne Vorhaben und Studien bereits erahnen, was zukünftig möglich sein wird: Virtuelle Spiegel und 3D-Scans unseres Körpers werden es erlauben, uns virtuell einzukleiden und gemeinsam mit Hologrammen unserer Freunde zu shoppen, während AR-Headsets nicht nur unser Online-, sondern auch unser stationäres Einkaufserlebnis maßgeblich erweitern und verändern werden (z. B. [6], [7], [8], [9]).
Vergleichbarkeit mit analogen Phänomenen
Das vergleichbare analoge Phänomen besteht in dem Ausprobieren und Beurteilen von Produkten während des klassischen Kaufprozesses im stationären Handel. Jedoch wird auch dieser mittlerweile von digitalen Prozessen durchsetzt und begleitet. Viele Kunden recherchieren bereits während des Einkaufs auf ihrem Smartphone Vergleichsangebote zu Produkten oder ersetzen das Gespräch mit der Verkäuferin/dem Verkäufer im Laden durch die Suche in Onlinerezensionen und ‑bewertungen. AR wird hier das Potenzial zugeschrieben, diese digitalen Daten und Prozesse besser in das Einkaufserlebnis zu integrieren (z. B. [10]) Im E-Commerce weist der Einkaufsprozess mittels AR interessanterweise mehr Gemeinsamkeiten mit dem analogen als mit dem herkömmlichen Onlineeinkauf auf. Wie im stationären Handel setzt die AR-Technologie darauf, dass das Produkt begutachtet, „in die Hand genommen“ und auf seine Funktionen hin geprüft und getestet werden kann – Möglichkeiten, die im E-Commerce bisher nicht bestanden. Ein großer Vorteil der AR-Technologie gegenüber beiden Prozessen ist, dass die ubiquitäre und permanente Verfügbarkeit eines 3D-Modells es erlaubt, das Produkt virtuell direkt und zu jeder Zeit in der eigenen physischen Umgebung, z. B. zu Hause, darzustellen – ein Prozess, der bei Konsumenten im stationären Handel und im herkömmlichen E-Commerce nur imaginär stattfinden kann. Gleiches gilt für die Veränderbarkeit der Produkte. Die Anpassung von Farbe, Größe oder Komponenten eines Produkts ist virtuell jederzeit möglich, ebenso wie dessen Vervielfältigung.
Ein Vorteil, den der analoge Einkaufsprozess bietet und dem der E-Commerce auch mittels der AR-Technologie nicht wird begegnen können, ist die direkte Verfügbarkeit der Produkte. Während die Ware in der AR-Applikationen digital über den Warenkorb bestellt wird, kann diese im stationären Handel direkt entgegengenommen werden.
Gesellschaftliche Relevanz
Der Einsatz der Technologie hat sowohl positive als auch negative gesellschaftliche Auswirkungen. Einerseits ist absehbar, dass die AR-Technologie den Trend zum Onlineshopping und damit den bereits sichtbaren Rückgang stationärer Einkaufsmöglichkeiten verstärken wird. Dieser Rückgang führt zu einer abnehmenden Belebung der Innenstädte und damit zu einem Rückgang des sozialen Zusammenlebens sowie dem Verlust von Arbeitsplätzen und dem sozialen Kontakt zu Angestellten und Mitarbeitenden. Andererseits erlaubt die AR-Technologie zukünftig Formen des sozialen Miteinanders, die bisher nicht möglich waren. Durch Social Features in den Anwendungen kann der Onlineshoppingprozess gleichzeitig, gemeinschaftlich und barrierefrei mit anderen online aktiven Kunden durchgeführt werden. Allerdings sind online adaptierte Prozesse in vielen Fällen nicht gerade dafür bekannt, gesellschaftliche und soziale Rücksichtnahme zu fördern. Zusätzlich sind beim AR-basierten Einkaufsprozess zukünftig datenschutzrechtliche und ethische Fragestellungen (insbesondere hinsichtlich personengebundener 3D-Scandaten) zu berücksichtigen.
Quellen
- Ecommerce Europe (2023). European E-Commerce Report 2023. https://ecommerce-europe.eu/wp-content/uploads/2023/11/European-Ecommerce-Report-2023-Light-Version.pdf
- Riar, M. et al. (2022). Using augmented reality for shopping: a framework for AR induced consumer behavior, literature review and future agenda. In: Internet research, 33(1), 242–279.
- Mister Spex (2024). Brille online anprobieren. https://www.misterspex.de/l/pg/100508
- IKEA (2017). IKEA Place app launched to help people virtually place furniture at home. https://www.ikea.com/global/en/newsroom/innovation/ikea-launches-ikea-place-a-new-app-that-allows-people-to-virtually-place-furniture-in-their-home-170912/
- Schöner Wohnen (2024). Die SCHÖNER WOHNEN Colour Designer App. https://www.schoener-wohnen-farbe.com/de/colour-designer/
- The Verge (2018). Amazon patents a mirror that dresses you in virtual clothes.
- Heller, J. et al. (2019). Touching the untouchable: exploring multi-sensory augmented reality in the context of online retailing. In: Journal of Retailing, 95(4), 219–234.
- Pfeifer, P. et al. (2023). More than meets the eye: In-store retail experiences with augmented reality smart glasses. In: Computers in Human Behavior, 146, 107816.
- Volograms (2024). Volograms. https://www.volograms.com/
- ATARI-Projekt (2024). Automatische Testberichte und Augmented Reality Interface für den Handel. https://www.realitaetenlabor.de/atari