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Eine neue Lebenswelt

Digitalisierung geht alle an, sagt Andreas Boes. Der bidt-Direktor forscht darüber, welche Auswirkungen sie für den Einzelnen sowie das gesellschaftliche Zusammenleben hat und wie sich der „digitale Umbruch“ zum Wohl der Menschen gestalten lässt.

Prof. Dr. Andreas Boes, Mitglied im Vorstand des ISF München und im bidt-Direktorium
© bidt / Diane von Schoen

Mit dem Internet ist eine gigantische neue Welt entstanden“, sagt Andreas Boes. „Es ist keine Technik, wie wir sie vorher kannten. Das Internet ist eine Mitmach-Infrastruktur. Sie wird von Millionen Menschen aktiv genutzt. Das stellt eine neue gesellschaftliche Handlungsebene dar. Menschheitsgeschichtlich ist das vollkommen neu. Bislang hat die Welt für uns dort stattgefunden, wo wir als Menschen physisch gebunden sind.“

Andreas Boes ist Mitglied im Direktorium des bidt und wird häufig als „Digitalisierungspionier“ bezeichnet. Dabei hält er wenig von dem Begriff „Digitalisierung“. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sich Andreas Boes mit dem Phänomen der „Informatisierung der Gesellschaft“, wie er es nennt. Damals, in den 1980er-Jahren, war noch von EDV die Rede, elektronischer Datenverarbeitung.

Ein Netz für alle

Digitalisierung ist für ihn ein „schillernder Begriff, der wenig sagt“, aber eine erstaunliche Karriere hingelegt hat.

Andreas Boes zeichnet dies anhand der Auswertung von Google-Suchanfragen nach sowie der Häufigkeit, mit der das Wort im Deutschen Bundestag verwendet wurde: In Deutschland ist seit dem Jahr 2013 von „der“ Digitalisierung die Rede. „Wenn ein Begriff auf einmal so hochschießt, müsste ein Ereignis stattgefunden haben, so wie jetzt alle von Corona sprechen. Das war bei der Digitalisierung 2013 nicht der Fall. Computer gibt es ja schon seit den 1950er-Jahren.“

Digitalisierung wälzt die ganze Gesellschaft um.

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Ein neuer Handlungsraum

Vielmehr sei damals erst in Politik und Wirtschaft die Erkenntnis gereift, welche grundlegende Bedeutung diese technologische Entwicklung für die Gesellschaft hat. „Plötzlich wurde bemerkt, dass die Digitalisierung keine technische Spielerei ist, die Ingenieure und Informatiker irgendwo im Keller machen. Sie wälzt die ganze Gesellschaft um.“

Mit dieser Erkenntnis ist Deutschland spät dran. Den Siegeszug des Internets habe man viel zu lange als Spielerei abgetan. Nachdem der Hype um die New Economy, wie die Internetwirtschaft damals genannt wurde, im Jahr 2000 im Börsencrash endete, fühlte man sich darin bestätigt, das Internet in Deutschland „als Randphänomen“ abzutun. Und das, obwohl es sich zunehmend als Netz für alle etablierte, zu dem immer mehr Menschen Zugang bekamen und das mit der rasanten Verbreitung von Smartphones vollends Einzug in den Alltag hielt.

Andreas Boes hat durch seine Forschung langjährige und intensive Kontakte zu Unternehmen. In zahlreichen Projekten hat der Soziologe, der auch im Vorstand des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) München ist, in den vergangenen Jahrzehnten erforscht, was die Digitalisierung für die Zukunft der Arbeit bedeutet und wie sehr sie das Arbeiten verändert. In der Politik ist er daher ein gefragter Gesprächspartner und in viele Arbeitsgruppen eingebunden.

Seine Reisen in die USA und Gespräche mit Firmen unter anderem im Silicon Valley haben ihm gezeigt, dass der Diskurs in Deutschland „mindestens um zehn Jahre“ hinterherhinkt.

Mit dem Internet ist ein neuer weltumspannender sozialer Handlungsraum entstanden.

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Selbst jetzt, wo der Begriff in aller Munde ist, werden die damit verbundenen Implikationen Boes zufolge oft nicht erfasst.

„Digitalisierung heißt im Grunde genommen: das Übertragen von Arbeitsprozessen im Informationsbereich in digitale Medien, um sie mit Maschinen bearbeiten zu können. Aber darum geht es ja schon lange nicht mehr. Viele bewegen sich noch im alten Paradigma von Automatisierung und Maschinen, die man an- und ausschalten kann, um Menschen zu ersetzen. Aber das Internet ist etwas anderes. Es lädt jeden von uns ein, mitzumachen.

Die Menschen mitnehmen

Für Andreas Boes gibt es daher nicht eine reale und eine virtuelle Welt. Vielmehr spricht er von „zwei verschachtelten Bühnen“: „Der Informationsraum Internet ist eine hochreale Welt und wir Menschen müssen uns ständig entscheiden, wie wir uns zu diesem Ineinandergreifen der beiden Bühnen verhalten.“

Die Corona-Pandemie habe vielen gezeigt, dass die digitale Transformation eben mehr ist als Roboter und KI. Vielmehr sei „eine neue Lebenswelt“ entstanden.

Am bidt setzt sich Andreas Boes von Beginn an dafür ein, die Herausforderungen der digitalen Transformation interdisziplinär zu erforschen.

Wir müssen die Digitalisierung in Deutschland mit dem Ziel vorantreiben, dass die Menschen etwas davon haben und die Gesellschaft dadurch einen Fortschritt erlebt.

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Das heißt auch: aus der Digitalisierung, die lange eine rein technische Angelegenheit zu sein schien, wo vermeintlich nur Experten aus der Informatik und dem Ingenieurwesen etwas sagen können, eine Sache für alle zu machen, weil es auch alle betrifft.“

Am bidt spielt daher der Dialog mit der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Dabei geht es nicht nur darum, wissenschaftliche Ergebnisse zu vermitteln, sondern es sollen auch Impulse aus der Gesellschaft für die Forschung aufgenommen werden.

Digitalisierung als Umbruch

Eine von ihm veröffentlichte Studie zeigt, wie sehr die digitalen Technologien in das Leben jedes Einzelnen eingreifen und wie sich die Menschen dazu positionieren. Dabei werden die Auswirkungen der Digitalisierung in Arbeit- und Privatleben durchaus als Umbruch erfahren.

Das Forschungsteam hat Einzelfallstudien mit Menschen unterschiedlichen Alters und in verschiedenen Berufen gemacht. Manche erleben die Auswirkungen der Digitalisierung im Privatleben als Bereicherung, sehen sie aber im Berufskontext kritisch – oder umgekehrt.

Die Menschen bemühen sich, die Digitalisierung in ihr Leben einzubauen. Je nach Erfahrung und Qualifikation gelingt es ihnen, das in einen positiven Lebensentwurf umzusetzen oder nicht. Es hängt entscheidend von ihren Kompetenzen ab und davon, wie sie ihre Handlungsfähigkeit einschätzen.

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Frage der Kompetenzen

Wie ungleich der Zugang zu digitalen Technologien und ihre Nutzung in der Gesellschaft sind, hat zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt. Während einige Berufstätige selbstverständlich ins Homeoffice wechselten und manche Schülerinnen und Schüler digitale Technologien zum Lernen nutzten, war das vielen anderen nicht möglich.

Schulbildung und berufliche Bildung bestimmen, wer ins Internet geht und was er oder sie dort macht.

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Was er mit einer Studie erstmals im Jahr 2005 gezeigt hat, sei mit Corona „wieder sehr deutlich geworden“.

Im Zuge der Corona-Pandemie rechnet Andreas Boes mit einer „gigantischen Digitalisierungswelle“. „Wenn man die Digitalisierung aber ohne Blick auf die soziale Spaltung vorantreibt, hat man in zehn Jahren eine irreversible Spaltung zwischen Menschen, die sich in der digitalen Welt bewegen können, und solchen, die es nicht können.“

Es ist eine von vielen Herausforderungen, die es in den kommenden Jahren zu bewältigen gilt. Viele Fragen sind noch unbeantwortet, etwa, was es für die Zukunft der Arbeit heißt, wenn so viele Tätigkeiten von zu Hause erledigt werden können oder wenn infolge der Datenerfassung Transparenz besteht über alles, was Beschäftigte tun.

Entscheidend dafür, wie die digitale Welt von morgen aussieht, sei es auch, den Informationsraum Internet konsequent zu nutzen und eine neue Form von Wertschöpfung und Arbeitswelt zu entwickeln. „Ich forsche darüber, was die Stellhebel sind, um die Digitalisierung für die Menschen zu gestalten“, sagt Andreas Boes. Damit von dem Netz für alle auch alle profitieren.