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Citizen Science goes virtual – Digitalisierung als Boom der partizipativen Wissenschaft?

Die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an wissenschaftlicher Forschung ist nicht selbstverständlich. Doch die Wissenschaftsgeschichte kennt diverse Formen zivilgesellschaftlicher Partizipation, darunter die Citizen Science (CS), die sich gegenwärtig nicht nur auf wissenschaftlicher, sondern auch auf politischer und sozialer Ebene ausbreitet.


Laut einer aktuellen Mitteilung des Bundesforschungsministeriums soll die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an wissenschaftlicher Forschung nachhaltig in das Wissenschaftssystem integriert werden. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man die Historie der Professionalisierung und Autonomiebildung von Wissenschaft betrachtet. Und dennoch haben sich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte diverse Formen zivilgesellschaftlicher Partizipation herausgebildet, darunter die sogenannte Citizen Science (CS), die gegenwärtig nicht nur eine Ausbreitung auf wissenschaftlicher, sondern auch auf politischer und sozialer Ebene erlebt. An drei Fragen entlang soll das Phänomen skizziert werden: Welche Hoffnungen und Risiken sind mit einer solchen partizipativen Öffnung von Wissenschaft verbunden? Wie hat sich wissenschaftliche Teilhabe ausdifferenziert und hin zu einer CS gewandelt? Inwieweit transformiert die Digitalisierung eine partizipative Wissenschaft?

Hoffnungen und Risiken der zivilgesellschaftlichen Partizipation

Der Gedanke einer partizipativen Wissenschaft baut auf der öffentlichen Relevanz von Forschung auf. Die Wissenschaft sieht sich dem sogenannten Veröffentlichungsgebot gegenüber, deshalb stellt die Informierung, Transparenz und Anschlussfähigkeit der Forschung für andere Felder, wie z. B. Politik oder Öffentlichkeit, einen gesellschaftlichen Anspruch an die Wissenschaft dar, wie Wenninger/Dickel darlegen. Aus dieser Prämisse, dass wissenschaftliche Forschung somit prinzipiell auch ein Anliegen für die Allgemeinheit ist, erwächst ein öffentliches Interesse an Teilhabe, zunächst unabhängig von ihrer Form. Während die Wissenschaftskommunikation über Wissenschaft informiert und in den öffentlichen Dialog tritt, liegt die Wissensproduktion bei der Wissenschaft selbst. Letztere stellt u. a. eine der Grundlagen dar, auf deren Basis politische Entscheidungen zum gemeinschaftlichen Wohl getroffen werden sollen.

Entwicklung zu partizipativer Öffnung der Wissensproduktion

Dieses Modell funktioniert, solange die professionellen ExpertInnen öffentliches Vertrauen genießen. Die nach außen getragenen Uneinigkeiten innerhalb der Wissenschaft im Hinblick auf ihr hervorgebrachtes Wissen und dessen moralische Bewertung, vor allem im Kontext von Katastrophen wie Tschernobyl, führte jedoch zu einer Verminderung dieses Vertrauensverhältnisses ab den 1970er-Jahren. Daraus entstanden die Ansprüche der Öffentlichkeit, nicht mehr nur informiert zu werden, sondern selbst ein beteiligter Akteur in der Bewertung von Wissenschaft und beim Aushandeln eines neuen Gesellschaftsvertrags zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu werden. Damit wurde die Entwicklung hin zu einer partizipativen Öffnung der Wissensproduktion angestoßen, die auch die Expertisen von wissenschaftlichen Laien in den Fokus rückt. Die Wissenschaft ist jedoch ein Feld, das eine spezifische Orientierung an Autonomie und der Reduzierung ebensolcher externen Einflussnahmen aufweist, um ihre Unabhängigkeit zu wahren. Diese Autonomiebestrebung zeigt sich in der strukturellen Beschränkung von Partizipation: Es bedarf entsprechender akademischer Abschlüsse (meist Promotion), einer wissenschaftlich-methodischen Ausbildung, der Ausführung spezifischer Tätigkeiten (z. B. Forschung und Lehre) und Kontrollmechanismen (u. a. Peer-Reviews), um wissenschaftlich teilhaben zu können. Dies soll die Qualität der Forschung absichern und die professionelle Wissensproduktion ermöglichen.

Im Spannungsfeld von Laien und ExpertInnen

Es erscheint zunächst also relativ unwahrscheinlich, Laien problemlos in die Wissensproduktion zu integrieren. Die Wissenschaft sieht sich hier einer Ambivalenz gegenüber. Einerseits birgt die partizipative Wissensproduktion die Hoffnung, dass externe und diversere Perspektiven bewusst Eingang in die Wissenschaft finden und diese damit den gewachsenen Ansprüchen der Öffentlichkeit auf wissenschaftliche Teilhabe gerecht werden kann. Andererseits bringt diese partizipative Öffnung auch Risiken mit sich, wenn es zur Teilhabe keiner akademischen Ausbildung mehr bedarf und eventuell antiwissenschaftliche Expertisen oder ideologische Anliegen in die Forschung getragen werden. Dadurch würden die Autonomie und die Sicherung der wissenschaftlichen Qualität von Forschung zunehmend prekär werden. Dieses Spannungsverhältnis führt jedoch interessanterweise gerade nicht dazu, dass Partizipation an Wissenschaft kategorisch ausgeschlossen wird. Vielmehr entstehen verschiedene Praktiken zwischen Laien und ExpertInnen in der Produktion evidenten Wissens. Dies beschreiben wir in unserer soziologischen Forschung spezifisch als Evidenzpraktiken, wobei wir uns auf die Citizen Science (CS) als eine Form der partizipativen Laienbeteiligung beziehen wollen.

Ausdifferenzierung und Wandel wissenschaftlicher Teilhabe

Bevor wir genauer auf diese Evidenzpraktiken der CS eingehen, bedarf es zunächst eines Blicks auf den Wandel der konkreten Partizipationsformen. Denn die wissenschaftliche Teilhabe von Laien ist durchaus kein neues Phänomen. CS ist dabei zunächst einmal von der Wissenschaftskommunikation zu differenzieren, die zwar den Beginn neuer Teilhabestrukturen an Wissenschaft aufzeigt, aber selbst keine direkte Partizipation darstellt. Ebenso gilt es die eingeladene Partizipation, wie sie auch in der CS zu finden ist, von der uneingeladenen Partizipation abzugrenzen. Letztere zeigt sich u. a. in Form von zivilgesellschaftlichem Engagement, kann jedoch auch bis hin zu antiwissenschaftlichen Bestrebungen wie z. B. Parawissenschaften reichen. Die unterschiedlichen Formen von uneingeladener Partizipation kennzeichnet, dass sie jenseits klassisch wissenschaftlicher Strukturen Forschung betreiben und nicht in einem wissenschaftsinitiierten Projekt dazu angeregt wurden. Im Folgenden liegt der Fokus jedoch auf der Entwicklung institutioneller Wissenschaftsteilhabe.

Von der Wissenschaftskommunikation zur Wissensproduktion

Die Anfänge der Wissenschaftskommunikation liegen im 19. Jahrhundert, und eine der frühen Institutionen ist die 1878 in Berlin gegründete Humboldt-Akademie in Berlin. Die ersten Formen einer partizipativen BürgerInnenwissenschaft – im Sinne des Einbringens der Alltagsexpertisen von Laien in die Forschung – sind ebenso im 19. Jahrhundert, vor allem in der Naturkunde, zu verorten. Neben den zuvor angesprochenen Diskussionen um soziale Verantwortung von Wissenschaft in den 1970er-Jahren stellt das sogenannte Public Understanding of Science (PUS) ein erstes Programm der weitreichenden Informierung von Öffentlichkeit über wissenschaftliche Erkenntnisse dar, um u. a. auch antiwissenschaftlichen Deutungen entgegenzutreten. Als Weiterentwicklung des an der Wissenschaftskommunikation orientieren PUS kam das Public Engagement with Science hervor, das stärker den Dialog von Wissenschaft und Forschung betont. Die sogenannten Konsensus-Konferenzen ab Ende der 1980er-Jahre (hier diskutieren Fachleute und BürgerInnen miteinander) sind nur ein Beispiel für diese stärker partizipative Ausrichtung von Wissenschaft. Ab den 1990er-Jahren etablierte sich zusehends der Begriff der Citizen Science (CS). Dieser beschreibt eine in verschiedenen Graden partizipative Einbindung von BürgerInnen in wissenschaftliche und spezifisch für diesen Zweck konzipierte Forschungsprojekte und legt damit den Fokus auf die Beteiligung an der konkreten Wissensproduktion. Im Zuge dieser gezielten Fokussierung kommt im 21. Jahrhundert nun eine weitere historische Entwicklung in der CS zum Tragen: die Digitalisierung.

Digitale Transformation partizipativer Wissenschaft

Schon auf „analogem“ Wege kann die Teilhabe an CS von der reinen Datensammlung unter wissenschaftlicher Aufsicht bis hin zur analytischen Einbindung und sogar einer möglichen Co-Autorschaft reichen. Digitale Infrastrukturen bieten dabei neue Potenziale für die Partizipation. Es kann z. B. die Menge der Datensammlung für die wissenschaftliche Forschung erhöht werden. Eine Chance der Digitalisierung von CS liegt hierbei in ihrer örtlichen Ungebundenheit. CS kann durch digitale Anwendungen direkt von unterwegs (u. a. bei der Meteorbeobachtung am Nachthimmel mithilfe von Kartierungs-Apps) oder von zu Hause aus am Computer (z. B. bei der Modellierung von RNA-Strukturen) betrieben werden. Die Laien können also auch jenseits akademischer Settings wie z. B. Hochschulen an der Forschung mitwirken. Hier entsteht somit eine Ergänzung bestehender Forschungsinfrastrukturen durch CS. Außerdem erhöht die mobilere Zugänglichkeit zu Forschungskontexten die Teilhabemöglichkeiten für Laien. Die zuvor beschriebene Hoffnung, dass partizipative Wissenschaft dem öffentlichen Interesse zur Teilhabe gerecht wird, kann durch eine digitale CS nochmals verstärkt werden. Zugleich bedeutet die Digitalisierung allerdings auch die Verstärkung der beschriebenen Risiken für klassische Forschung. Durch die digitale Teilhabe von Laien und der dadurch gesteigerten Datenmenge wächst das Risiko, dass Daten möglicherweise nicht nur fehlerhaft erhoben werden (da Laien keine Ausbildung in wissenschaftlichen Methoden der Datenerhebung aufweisen), sondern dass dies massenhaft geschieht. Das würde die Datenqualität insgesamt wiederum prekär machen.

Risikominimierung durch Digitalisierung der epistemischen Kontrolle

Soziologisch relevant wird nun die Frage, wie die professionelle Wissenschaft als gesellschaftlicher Akteur darauf reagiert, dass mit den Chancen der digitalen Partizipation auch Risiken für ihr eigenes Feld einhergehen. Interessanterweise wird hierauf nicht mit der Abkehr von digitaler Teilhabe reagiert, sondern die Antwort ist in diesem Fall wiederum die Digitalisierung. Es werden nämlich verstärkt epistemische Kontrollen zur Sicherung der Datenqualität in die digitalen Applikationen eingebaut. Ein Beispiel hierfür ist die App Flora incognita, die über die technische Einbettung verschiedener Datenbanken die Erkennung von Pflanzenarten vereinfacht. Durch solche Applikationen können menschliche „Fehlerquellen“ reduziert werden für die Datenbewertung. Dies lässt sich als (in diesem Fall technische) Evidenzpraktik beschreiben, also vereinfacht gesagt als eine Praktik, durch die empirisch gesichertes Wissen produziert werden kann. Auf die Digitalisierung der Teilhabe folgt die Digitalisierung der epistemischen Kontrolle.

Zwischen Autonomieverlust und neuer, kollektiver Wissenskultur

Dieses zirkuläre Verhältnis zwischen Teilhabe und Evidenzsicherung stellt eine spezifische Form der sozialen Praxis wissenschaftlicher (und digitaler) Partizipation dar. Doch dies ist nicht nur bei quantitativen Komponenten wie den Datenmengen zu beobachten. Eine Untersuchung des digitalen CS-Projekts Galaxy Zoo durch Kasperowski/Hillman, das die Kategorisierung von Galaxien zum Ziel hat, zeigte u. a., dass Projektteilnehmende auch eigene epistemische Ansprüche, also den Willen zum Einfluss auf das produzierte Wissen, entwickeln. Die Laien waren dabei nicht damit zufrieden, wie ihre Tätigkeit und Informierung im Projekt gestaltet wurde, und haben digitale Wissenschaftsforen genutzt, um das Forschungsdesign zu hinterfragen. Die digitale Vernetzung hat dabei zu intensivierten epistemischen Verhandlungen zwischen allen Akteuren des Projekts geführt. Auf die Nachfragen der Teilnehmenden, ob sie relevante Beobachtungen gemacht haben, wurde vonseiten der Projektleitung und der Forschenden verschieden reagiert. Die Mehrzahl der Antworten war eher kurz und ohne von den Laien erwünschte Erklärungen. Weitere Erläuterungen wurden teilweise mitgegeben. Und es gab u. a. auch resistente Reaktionen gegenüber den Laien und ihrem Hinterfragen von Projekttätigkeiten, wobei die Forschenden auf die ursprüngliche Konzeption der Laientätigkeit verwiesen und alternativen Deutungen entgegentraten. Hier treffen verschiedene Evidenzpraktiken aufeinander, sowohl aufseiten der Laien (Zuschreibung eigener Expertise) als auch aufseiten der Forschenden (Regulierung der epistemischen Einwände von Laien), die sich wechselseitig beeinflussen. Auch wenn im Rahmen dieses Blogbeitrags nur eine schematische Darstellung dieser Prozesse möglich ist, zeigt sich hier, dass CS nicht nur eine Ergänzung wissenschaftlicher Projekte durch Laienbeteiligung ist. Die Forschungskonzeptionen können selbst zum Verhandlungsgegenstand werden. Somit ist auch eine qualitative Dimension der Erweiterung von Wissenschaft im Sinne einer neuen, kollektiven Wissenskultur zu erkennen. Dies steigert die inhaltliche Partizipation, aber fördert umso mehr auch das Risiko des Autonomieverlusts der Wissenschaft. Evidenzpraktiken sind somit kein Phänomen, das allein die Forschung oder allein die Laien betrifft. Sie entfalten sich genau in dem Spannungsverhältnis zwischen den Ansprüchen auf Partizipation und der Sicherung von Wissenschaftlichkeit.

Ein weites Feld von Chancen und Risiken

Die Partizipation an Wissenschaft zeigt sich hier als ein zirkulärer Prozess, der bestimmt ist von verschiedenen Evidenzpraktiken, die permanent und wechselseitig ausgehandelt werden im Lauf der Wissensproduktion. Unser Untersuchungsgegenstand der CS ist somit vielschichtig zu denken, und zwar vor dem Hintergrund, dass Teilhabe nicht nur den Ausbau bestehender Forschungsinfrastrukturen bedeutet im Sinne einer Ergänzung der Forschung. Es gilt ebenso zu berücksichtigen, inwieweit gängige Wissenschaftsstrukturen selbst in Verhandlung gebracht werden als Erweiterung bzw. Transformation der epistemischen Wissensproduktion. Die Digitalisierung kann hierbei sowohl die Teilhabe als auch die kritischen Potenziale von CS verschärfen, aber genauso als „Gegenmittel“ genutzt werden, um wissenschaftliche Evidenz zu sichern. Es gilt somit, die wechselseitige Bedingtheit von partizipativer Wissenschaft und Digitalisierung in den Blick zu nehmen. Ein Boom der CS durch die Digitalisierung ist anhand der vielfältigen Teilhabemöglichkeiten und der Quantität von Daten in den CS-Projekten durchaus festzustellen und stellt neue Chancen für die partizipative Wissenschaft dar. Dies bedeutet aber auch größere Herausforderungen für die Autonomie der wissenschaftlichen Wissensproduktion.

Diesem Spannungsverhältnis der partizipativen Wissenschaft wollen wir uns in dem am bidt angesiedelten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt „Die Evidenzkultur der Citizen Science“ genauer widmen. Es ist zugleich ein Teilprojekt der interdisziplinären DFG-Forschungsgruppe „Evidenzpraktiken in Wissenschaft, Medizin, Technik und Gesellschaft“. Wir wollen im Projekt vor allem auch die gesellschaftliche Etablierung von CS in den Blick nehmen. Hierbei wird die Frage nach einer projektübergreifenden Qualitätssicherung der CS fokussiert, u. a. durch die Schaffung neuer CS-Netzwerke wie z. B. dem Dachverband ECSA, nationalen CS-Plattformen wie „Bürger schaffen Wissen“ und dem Aufkommen spezifischer Leitlinien zur Umsetzung einer „guten“ Wissenschaftspraxis für CS. Die Untersuchung, inwieweit die Digitalisierung auch hier Einfluss auf die Etablierung von CS und dahingehend ihrer qualitativen Kontrolle nimmt, wird eine der künftigen Aufgaben unseres Projekts sein. Dies dient dem Ziel, fundiertes Wissen über die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnis im Zeitalter digitaler Partizipation zu generieren.

Die vom bidt veröffentlichten Blogbeiträge geben die Ansichten der Autorinnen und Autoren wieder; sie spiegeln nicht die Haltung des Instituts als Ganzes wider.