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Am Puls der Digitalisierung

Ursula Münch untersucht die Folgen der Digitalisierung für Politik und Gesellschaft. Sie spricht sich für mehr Regulierung aus: „Ich sehe, dass sich die Bevölkerung alleingelassen fühlt.“

Ursula Münch stellt sich drängenden Fragen. „Meines Erachtens ist die Digitalisierung eine von den drei großen Kräften, die unser Leben schon jetzt massiv beeinflussen und künftig noch weiter verändern werden – neben der Globalisierung beziehungsweise Migration und der Erderwärmung.“

Als Politikwissenschaftlerin gilt ihr Blick den Auswirkungen der Digitalisierung auf Demokratien und Gesellschaften. „Wer sich mit politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung beschäftigt, wird ständig darauf gestoßen, dass ein Teil des Ansehensverlusts politischer Akteure auf die veränderten digitalen Kommunikationsformate und deren Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen ist.“

Politische Prozesse unter Druck

Wie sehr die Digitalisierung die öffentliche Kommunikation und auch das Verständnis von Politik verändern würde, sei lange nicht erkannt worden.

„Heute kann ich mich darüber amüsieren oder vielleicht auch entsetzen, wie unbedarft wir das noch vor wenigen Jahren gesehen haben. Auch Sozialwissenschaftler hatten nicht erwartet, dass die Digitalisierung einen solchen Beschleunigungseffekt hat, Gesellschaften derart schnell verändert und politische Prozesse so stark unter Druck setzt.“

Als Ursula Münch im Jahr 2011 Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing wurde, die wissenschaftlich fundierte Tagungen und Seminare auch für Bürgerinnen und Bürger anbietet, stießen Angebote zur Digitalisierung noch auf wenig Resonanz. „Mir war es gleich nach meinem Amtsantritt ein Anliegen, auch die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft in Fachtagungen zu thematisieren. Und ich erinnere mich noch gut, wie der damals dafür zuständige Dozent sagte: ‚Wir müssen die Tagung absagen. Es interessiert sich niemand für das Thema.‘ Das ist gerade mal neun Jahre her. Das muss man sich mal vorstellen!“

Digitalisierung nicht zu pauschal betrachten

Heute ist Ursula Münch, die seit 1999 Professorin für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr München ist, auch aufgrund ihrer langjährigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema eine gefragte Expertin zu Fragen der Digitalisierung und deren Bedeutung für Politik und Gesellschaft.

Seit September 2018 ist Ursula Münch Mitglied im Direktorium des bidt. „Man muss aufpassen, dass man Digitalisierung nicht zu pauschal behandelt. An der Akademie für Politische Bildung wie auch am bidt betrachten wir die Auswirkungen differenziert mit Blick unter anderem auf Arbeitsmarkt, Medien, Gesellschaft und Politik.“

Bei der Eröffnungsveranstaltung des bidt sprach Ursula Münch über Digitalisierung als Gestaltungsaufgabe für die Politik. Sie konstatierte eine „digitalpolitische Handlungsschwäche“.

„Ich bin der Auffassung, dass die Politik die Digitalisierung stärker regulieren muss. Und das nicht nur wegen des Drucks der Populisten, die das ‚Narrativ‘ vom schwachen Staat‘ für sich nutzen, sondern auch aus sachlicher Notwendigkeit. Die öffentliche Meinungsbildung wird durch die digitalen Medien manipulierbar und Verbraucher müssen geschützt werden. Wahlkämpfe müssen ohne Manipulationen stattfinden, und wir dürfen uns auch nicht unsere soziale Marktwirtschaft durch die Übermacht von Internetgiganten kaputt machen lassen. Ich beobachte, dass sich die Bevölkerung tatsächlich alleingelassen fühlt.“

Digitalisierung aus der Wischperspektive

Ursula Münch spricht unter Bezug auf eine typische Handbewegung am Smartphone von der „Wischperspektive“ der Nutzer und beschreibt damit, dass der Blick vieler Nutzer auf die Digitalisierung ein beschränkter ist. „Den meisten ist durchaus bewusst, dass sie die Digitalisierung nur aus der Wischperspektive kennen. Konsequenzen mit Blick auf die eigene Fortbildung ziehen daraus aber die wenigsten.“

Die Ambivalenz der Digitalisierung wahrnehmen

Ihre Arbeit für die Akademie eröffnet Ursula Münch einen guten Einblick, wie die Digitalisierung bei den Menschen ankommt. Und inzwischen stoßen die dortigen Tagungen zum Thema auf sehr große Nachfrage.

„Der größere Teil der Bevölkerung nimmt die Digitalisierung als Fortschritt wahr. Man muss ja auch bedenken, wie verführerisch die Digitalisierung auf die meisten wirkt und in welcher Form sie bei uns ankommt: vor allem als Vergleichsportal für Versicherungen, als Uber und Airbnb, Google und Amazon und als Möglichkeit der digitalen Kommunikation, bei der viele Anwendungen auch Suchtcharakter haben.“

Und doch spürt die Politikwissenschaftlerin auch eine Verunsicherung, und zwar ganz unterschiedlicher Kreise. „Es gibt Sorgen, wie sich die Digitalisierung auf den eigenen Arbeitsplatz und den der Kinder auswirken wird. Und es macht sich ein Unbehagen darüber bemerkbar, in welche Abhängigkeitsstrukturen wir als Nutzerinnen und Nutzer geraten – nicht nur durch die Art und Weise, wie wir mit digitalen Medien unsere Freizeit ‚totschlagen‘, sondern auch dadurch, dass die Mechanismen des sogenannten Überwachungskapitalismus bereits auf jedem Smartphone wirksam sind. Ich halte es für erforderlich, dass die Menschen nicht alles nur einfach gut finden, sondern die ganze Ambivalenz der Digitalisierung wahrnehmen – die vielen Möglichkeiten, aber auch die Risiken.“

Verunsicherte Schulleitungen

Zum Kreis der deutlich verunsicherten Adressaten zählen Schulleitungen, die oft auf sie zukommen. „Die Nachfrage nach Einordnung ist sehr groß. Die Schulleitungen sind, ebenso wie die Lehrkräfte, mit dem Thema Digitalisierung und seinen Zusammenhängen, auch mit Blick auf Demokratieerziehung, ziemlich überfordert“, sagt Ursula Münch.

Aus ihrer Arbeit als Direktorin für die Akademie für Politische Bildung weiß sie, dass auch viele Bürgerinnen und Bürger Orientierung suchen. „Das ist meines Erachtens auch eine Aufgabe des bidt: deutlich zu machen, was sich durch die Digitalisierung in wohl allen Lebensbereichen verändert und wie sich zum Beispiel Handwerker, Unternehmen, Mediziner oder Universitäten auf diese Veränderungen einstellen können.“

Digitalisierungsstrategien vergleichen

Am bidt betreut Ursula Münch gemeinsam mit Thomas Hess, ihrem Kollegen im Direktorium, das Forschungsvorhaben „Digitale Transformationsstrategien der bundesdeutschen Länder“. Das Projektteam erarbeitet einen systematischen Vergleich unterschiedlicher Herangehensweisen. Das Ziel ist, Bewertungskriterien für erfolgversprechende politische Digitalisierungsstrategien zu identifizieren und darauf aufbauend Gestaltungsimpulse an die Politik zu formulieren.

Dabei suchen die Wissenschaftler auch nach Good-Practice-Beispielen. „Wir wollen untersuchen, was sich bewährt: zu dezentralisieren und jedes Ministerium seine eigene Digitalpolitik machen zu lassen – auf die Gefahr hin, dass alle am selben arbeiten, das dann aber nicht kompatibel ist. Oder ist es klüger, zu zentralisieren mit der Gefahr, dass ein großer Fehler sich ständig wiederholt? Uns interessiert auch, ob es einzelne Länder in Deutschland gibt, die federführend sind. Und, falls dem so ist, herauszufinden, von wem sie lernen und woran sie sich orientieren.“

Aufklären, auch über negative Entwicklungen

Mit Blick auf die Politik sieht Ursula Münch das bidt in der Rolle, Handlungsempfehlungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu geben. Als langjährige Beobachterin vor allem der digitalen Kommunikation bleiben Ursula Münch deren Auswirkungen auch jenseits der Politik nicht verborgen.

Manche lösen bei ihr sorgenvolle Gedanken aus – und stärken ihre Motivation, zur Aufklärung über die Folgen der Digitalisierung beizutragen und so negativen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen.

„Ich stelle in meiner Arbeit mit Studentinnen und Studenten mit Erschrecken fest, dass die Fähigkeit, sich auf einen Text zu konzentrieren, verloren geht. Das macht mir ernsthaften Kummer. Wohin steuert eine – angeblich so bildungsorientierte – Gesellschaft, wenn Menschen Informationen bloß in Kastenform und Bulletpoints zur Kenntnis nehmen und alle nur noch auf einem oberflächlichen Niveau über irgendetwas reden?“